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Unternehmen "Emil"
2. "Emil und die Detektive" - Informationen zu Buch und Film
2.1 Das Kinderbuch "Emil und die Detektive": Erzählte Großstadt
Im Sommer 1927 war Erich Kästner aus Leipzig nach Berlin gekommen und hatte in Berlin-Wilmersdorf in der Prager Straße 17 bei der Witwe Ratkowski ein möbliertes Zimmer genommen. Berlin ist zu dieser Zeit geistiges und kulturelles Zentrum und zieht Kulturschaffende und Künstler aus aller Welt an, die hier Karriere machen wollen. Beispielsweise zählt man in diesem Jahr über 49 Theater- und Opernhäuser, drei große Varietés und 75 Kleinkunstbühnen, und für das Jahr 1928 wurde die unglaubliche Zahl von über 2600 Zeitungen und Zeitschriften errechnet. Anmerkung 2
Bild 1. Prager Str. 6
"Hier stand einmal Erich Kästners Wohnhaus !"
Berlin steht als Symbol für die Moderne. Mit seinem enormen Entwicklungstempo auf industrieller Grundlage und seinen Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten, die aus der sozialen Dichte resultieren, wird es zum Inbegriff für modernes Leben, für höhere Lebensgeschwindigkeit, für Lebensgewinn und kulturelle Veränderung. Diese Formeln für die Faszination großstädtischen Lebens finden sich ähnlich auch im "Emil" wieder:
"Diese Autos! Sie drängten sich hastig an der Straßenbahn vorbei; hupten, quiekten, streckten rote Zeiger links und rechts heraus, bogen um die Ecke; andere Autos schoben sich nach. So ein Krach! Und die vielen Menschen auf den Fußsteigen! Und von allen Seiten Straßenbahnen, Fuhrwerke, zweistöckige Autobusse! Zeitungsverkäufer an allen Ecken. Wunderbare Schaufenster mit Blumen, Früchten, Büchern, goldenen Uhren, Kleidern und seidener Wäsche. Und hohe, hohe Häuser. Das war also Berlin." (Kästner 1985, 50)
Doch das Leben im Tumult der Großstadt Berlin bedeutet auch gleichzeitig Verwirrung für den einzelnen durch die Fülle der Eindrücke, Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit in den Beziehungen, Anonymität und soziale Unsicherheit. Der Philosoph Georg Simmel leitet aus dem ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke in der Großstadt, einen Wahrnehmungs- und Verhaltensmodus ab, den er als "Blasiertheit" bezeichnet. Um sich gegen den Reizüberschuß zu schützen, könne sich der Großstädter nur "oberflächlich" und selektiv auf seine Lebenszusammenhänge einlassen. (Simmel 1957) Diese Argumentations-Figur taucht skizzenhaft im Text auf, als der Kleinstädter Emil ins "Dickicht der Stadt" gerät:
"Die Stadt war so groß. Und Emil war so klein. Und kein Mensch wollte wissen, warum er kein Geld hatte und warum er nicht wußte, wo er aussteigen sollte. Vier Millionen Menschen lebten in Berlin, und keiner interessierte sich für Emil Tischbein. Niemand will von den Sorgen des andern etwas wissen. Jeder hat mit seinen eigenen Sorgen und Freuden genug zu tun. Und wenn man sagt: Das tut mir aber wirklich leid, so meint man meistens gar nichts weiter als: Mensch, laß mich bloß in Ruhe!" (Kästner 1985, 52)
Kästner stellt im Buch "Stadt-Ansichten" von Großstadt und Kleinstadt gegenüber. Dabei werden die beiden Lebenswelten deutlich in ihrer Unterschiedlichkeit herausgearbeitet, aber nicht gegeneinander ausgespielt. Im kleinbürgerlichen Neustadt "Emils" ist die erzählte Welt friedlich, ordentlich und überschaubar. Das Leben verläuft äußerlich in ruhigen Bahnen (Pferdebahn), und die Menschen kennen einander. Im übrigen muß, wer leben will, arbeiten und Geld verdienen. Das ambivalente Berlin der "Landhausbande", in dem auch das Böse existiert, zeichnet sich demgegenüber durch Tempo, Betrieb, Warenfülle, Lebendigkeit, Offenheit und Vielfalt der Lebensmöglichkeiten aus. Gegen Ende der Verfolgungsjagd verhandeln dann "Emil" und der "blasierte Professor" diese beiden sozialen Milieus in einer Art Diskurs:
" ‘Berlin ist natürlich großartig. Man denkt, man sitzt im Kino. Aber ich weiß nicht recht, ob ich immer hier leben möchte. In Neustadt haben wir den Obermarkt und den Niedermarkt und den Bahnhofsplatz. Und die Spielplätze am Fluß und im Amselpark. Das ist alles. Trotzdem, Professor, ich glaube, mir genügt’s. Immer solcher Fastnachtsrummel, immer hunderttausend Straßen und Plätze? Da würde ich mich dauernd verlaufen. Überleg dir mal, wenn ich euch nicht hätte und stünde ganz allein hier! Da krieg ich gleich ‘ne Gänsehaut.’ ‘Man gewöhnt sich dran’, sagte der Professor. ‘Ich hielt es wahrscheinlich wieder nicht in Neustadt aus, mit drei Plätzen und dem Amselpark.’ ‘Man gewöhnt sich dran’, sagte Emil, ‘aber schön ist Berlin. Keine Frage, Professor. Wunderschön.’ " (Kästner 1985, 74f)
Berlin-Wilmersdorf, in dem Kästner nun wohnt, gehört zum "Neuen Westen". Im Zuge des Wachstums der Stadt hatte sich das wohlhabende Bürgertum seit der Jahrhundertwende immer mehr aus den proletarischen "Arbeitsquartieren" der Metropole zurückgezogen und war in die neuen, westlichen Vorstädte wie Charlottenburg, Wilmersdorf oder Schöneberg gewandert. Charakteristisch für deren Bebauung sind die ("hochherrschaftlichen") Mietshäuser mit aufwendigen Stuckfassaden und Großwohnungen in jedem Stockwerk. Zum Zentrum des "Neuen Westens" entwickelt sich die Gegend um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Anfang des Kurfürstendamms. Bars, Cafés, Restaurants, Theater, Kinopaläste, Varietés und exclusive Modegeschäfte machen der neuen bürgerlichen Erlebnisgesellschaft ein attraktives Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Konsumangebot und sorgen dabei für die Inszenierung eines "weltstädtischen Bildes". Dieses Bild ist jedoch differenziert zu betrachten, und erst die bewußte Wahrnehmung macht den Unterschied zwischen Realität und Inszenierung deutlich. So beschreibt Joseph Roth 1929 das Kurfürstendamm -Ensemble als "mißlungenes Original":
"Manchmal unterbrechen die Reihe der Wohnhäuser Kaffeehäuser, Kinos und Theater. Sie sind es eigentlich, denen der Kurfürstendamm seine Bedeutung als Verkehrsader zu verdanken hat. Gott weiß, was er ohne sie wäre! Deshalb sind sie unaufhörlich bemüht, seine Größe zu heben. Da sie seine Ansprüche auf internationale Bedeutung kennen, streben sie nach Internationalität. Ein Gasthaus wird amerikanisch, ein Kaffeehaus französisch. Zwar sieht es niemals aus wie in New York oder in Paris. Aber es weckt Reminiszenzen an dieses oder jenes. In ihrer Bescheidenheit halten sie sich nur für gelungene Imitationen, aber sie sind in Wirklichkeit mißlungene Originale." (Roth 1996, 186)
Doch gerade hier hat sich das "Industriegebiet der Intelligenz" (Erich Mühsam) entwickelt. Hier versammelt sich nach dem Ersten Weltkrieg die Avantgarde von Kunst, Literatur und Presse. Viele Künstler und Autoren suchen sich in der Nähe des Kurfürstendamms eine Unterkunft. Als Kästner in die Prager Straße zieht, wohnen beispielsweise ganz in seiner Nähe solch bekannte Leute wie Egon Erwin Kisch (Güntzelstraße), Ernst Toller (Spichernstraße) oder Kurt Tucholsky (Nachodstraße). Wilmersdorf war als Wohnsitz besonders anziehend. Hier war man zum einen nahe dran am dynamischen Leben der Metropole, zum anderen konnte man in der Nähe zum Grunewald in einer "gutbürgerlichen" Wohngegend in angenehmer Atmosphäre leben. Allerdings gibt diese Lebensumwelt wenig an literarischen Themen und Stoffen her: der "Emil" gehört da also zu den Ausnahmen.
Der "Neue Westen" in Wilmersdorf ist eher ein Ort zum Wohnen und zum Schreiben. In dieser "feineren" Gegend - und das ist nicht nur für die Wohnviertel des "Neuen Westens" charakteristisch - werden die sozialen Milieus räumlich nicht durch Wohnquartiere, sondern durch die Vorder- und Hinterhäuser getrennt: Vorne wohnen die "feinen", hinten die "kleinen" Leute. So wird im übrigen auch verständlich, daß Emil auf eine "Kinderbande" treffen kann, in der es Kinder gibt, die offensichtlich aus verschiedenen sozialen Schichten stammen: zum Beispiel der Prototyp des "blasierten Intellektuellen" in Gestalt des "Professors" (Sohn eines Justizrates) und der Typ des cleveren, pragmatischen "Straßenjungen" in der Gestalt des "Gustavs". Die "Detektive" repräsentieren nun "modellhaft einen gesellschaftlichen Mikrokosmos" (Schikorsky 1995, 225), in dem die sozialen Abgrenzungen aufgelöst sind. Die soziale Realität von Kindern der Weimarer Zeit dürfte allerdings eine andere gewesen und im Alltagshandeln auf Grenzziehungen hinausgelaufen sein, wie sie sich damals räumlich-konkret im Dienstbotenaufgang oder den 1., 2. und 3. Klassen der öffentlichen Verkehrsmittel zeigten. Welche Haltung damit verbunden sein konnte, beschreibt Walter Benjamin in seinem Buch "Berliner Kindheit": "In meiner Kindheit war ich ein Gefangener des alten und neuen Westens. Mein Clan bewohnte diese beiden Viertel damals in einer Haltung, die gemischt war aus Verbissenheit und Selbstgefühl und die aus ihnen ein Ghetto machte, das es als Leben betrachtete. In diesem Quartier blieb ich geschlossen, ohne um ein anderes zu wissen." (Benjamin 1972, S. 287).
Bild 2. "Der erste Tatort" (um 1925):
Kaiserallee / Ecke Trautenaustraße
Bild 3. "Der erste Tatort"
(1996) Bundesallee / Ecke Trautenausstraße
Mit den "Detektiven" entwirft Kästner dagegen das Bild einer idealen (Kinder-)Gesellschaft, die sozial durchmischt ist, in der es zwar widerstreitende Ideen und Interessen gibt, in der man sich aber verständigen und zu gemeinsamen Handlungszielen finden kann.
Als Kästner im Frühjahr 1928 von der "Weltbühnen"-Verlegerin Edith Jacobsohn den Auftrag erhält, ein Buch für Kinder zu schreiben, kann er sich verständlicherweise noch nicht perfekt in der Berliner Stadtlandschaft ausgekannt haben. Als kritischer Beobachter seiner Zeit und als Vertreter der "Neuen Sachlichkeit" fühlt sich Kästner den aufklärerischen Maximen Objektivität, Klarheit, Verständlichkeit und Wirklichkeitsbezug verpflichtet. So liegt es nahe, daß er die eigene Lebens- und Wohnumwelt, in der er sich relativ gut auskennt, zum Hauptschauplatz des "Emils" macht und damit - ganz im Sinne des "Oberkellners Nietenführ" - "eine Geschichte über Dinge (schreibt), die wir, ihr und ich längst kennen." (Kästner 1985, 14))
Die Gegend um den Prager Platz ist im Grunde behäbig und beschaulich, vom "Dschungel der Großstadt" ist hier äußerlich kaum etwas wahrzunehmen. Kästner gestaltet dieses Wohnviertel nun zu einem aufregenden Abenteuer-Spielplatz für Kinder um. Er stützt sich dabei auf ein eigenes Erlebnis. In seinem Buch "Als ich ein kleiner Junge war" beschreibt er, wie er eine ältere Frau, durch die seine Mutter finanziell geschädigt worden war, quer durch Dresden verfolgt und schließlich auch stellt. (Kästner 1985, 532 ff.) Mit Hilfe "seines" Verfolgungsthemas verwandelt er nun Straßen, Plätze, Häuser und Höfe in einen Handlungs- und Freiraum. In diesem real existierenden, räumlichen Ensemble
- können kleine Helden ein spannendes Abenteuer erleben,
- können sie sich - von Erwachsenen unbeaufsichtigt - selbst organisieren und im Wortsinne einen Tag lang "um die Häuser ziehen": Kriegsrat abhalten, Standquartiere beziehen, Taxi fahren, Hotel und Café observieren oder Telefon- und Kurierdienste einrichten.
Bewegungsräume, die man sich so nur "im Dickicht der Großstadt", aber nicht im Neustadt Emil Tischbeins vorstellen kann.
"In Neustadt hatten Emil und seine Freunde nach einem kleinen Streich dem Zugriff des allzeit gegenwärtigen Polizeiwachmeisters Jeschke nur knapp entgehen können. Die Großstadt dagegen bildet den Freiraum, der das Prinzip der Selbsterziehung in einer sozial gemischten Kindergruppe überhaupt erst ermöglicht. So wird die Großstadt selbst zum "Lehrmeister": Das Leben der Straße lehrt den modernen Helden, Gefahren zu meistern und sich weiter auszubilden, es ist der Ort, wo er sich bewähren muß." (Schikorsky 1995, 221)
Indem Kästner das Leben und die konkrete Umwelt seiner Zeit ins Kinderbuch holt, zeigt er jungen Lesern Ausschnitte gesellschaftlicher Realität, "wie sie aussieht", und er verschweigt ihnen dabei auch deren Schattenseiten nicht. Dennoch verliert die erzählte Realität in dem Moment ihre klaren Konturen, wo aus der "Umweltgeschichte" eine Art Märchen wird und "wo die Wirklichkeit phantasievoll und genüßlich überspielt wird." (Doderer 1983)
Aber gerade das Märchenhafte dürfte - bis auf den heutigen Tag - die Faszination dieser Detektivgeschichte für Kinder ausmachen, weil es ihrem Bedürfnis entspricht, eine oft schwer zu durchschauende und "unbehagliche" Wirklichkeit in den Griff zu bekommen. Auf dem Weg der Projektion und der Identifikation mit "kleinen Helden" können sie aus dem Alltag "aussteigen", eine erwünschte Wirklichkeit herstellen und dem Guten über das Böse in dieser Welt zum Sieg verhelfen.
2.2 Der Film "Emil und die Detektive": Kinder und Großstadt
Das Buch "Emil und die Detektive" wird bei Kindern und bei der Kritik ein großer Erfolg. Allein bis zum Ende des Jahres 1930 werden zehn Auflagen gedruckt. In diesem Jahr erwirbt auch die UFA die Filmrechte, und zusammen mit Emmerich Preßburger soll Kästner das Filmdrehbuch verfassen. Die Zusammenarbeit scheitert, und schließlich wird der junge Billy Wilder mit der Abfassung des Drehbuchs beauftragt. Kästner akzeptiert das Manuskript, das sich im wesentlichen an der Romanvorlage orientiert. Die Regie des Schwarz-Weiß-Films übernimmt Gerhard Lamprecht. Lamprecht war schon während der Stummfilmzeit durch Literaturverfilmungen (z.B. "Die Buddenbrooks" nach Thomas Mann, 1923) und durch eine Zille-Trilogie ("Die Verrufenen", 1925; "Menschen untereinander", 1926; "Die Unehelichen", 1926) bekannt geworden. Die Kunst des Stummfilmers, Geschichten eindrucksvoll mit Bildern zu erzählen, läßt sich bei der Verfilmung des "Emils" deutlich an der Montagetechnik und dem gekonnten Spiel mit Licht und Schatten erkennen. So zieht sich leitmotivisch die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse - in Gestalt des "schwarzen Mannes mit dem steifen Hut" - als Wechselspiel von Hell und Dunkel durch den Film.
Als einer der frühen deutschen Tonfilme kommt "Emil und die Detektive" 1931 in die Kinos. Diese Erstverfilmung gilt als die gelungenste aller noch folgenden Filmversionen und ist gleichsam eine Pionierleistung auf dem Gebiet des Kinderfilms.(vgl. Lutz-Kopp 1993) Eine genuine Kinderfilmproduktion existierte in der Weimarer Zeit noch nicht. Der Film "ist eigentlich auch nur gemacht worden, weil das Buch vorher schon gut verkauft wurde", erinnert sich Hans Richter, der als Kind im Film die Rolle des "Fliegenden Hirsches" übernahm. (Schneider 1982, 14) Mit dieser Figur, die eigens für die Verfilmung entwickelt wurde, wird ein Leitthema fortgeführt, mit dem der Film beginnt: "Indianer auf dem Kriegspfad - ist das schönste Spiel aller Jungens!" (Illustrierter Film-Kurier 1931, 3) Dieses Spiel läßt sich sowohl in Neustadt als auch in Berlin spielen. Der "Fliegende Hirsch", ein Junge mit Indianer-Tick, ist solch ein "Großstadt-Indianer".
Die ersten Szenen des Films, die ohne Dialog auskommen, zeigen Emil und seine Neustädter Freunde beim Indianer-Spiel, bei dem sie ein Denkmal verunglimpfen. Dieses breit ausgespielte "Attentat" verschafft dann auch Emil ein schlechtes Gewissen und ist später der Grund dafür, daß bei der Verfolgung des Herrn Grundeis nicht die Polizei eingeschaltet wird. Gleichzeitig gelingt es dem Film mit dieser Einführung, eine Kleinstadt-Welt zu inszenieren, die mit den Topoi Ruhe, Überschaubarkeit, Ordnung und soziale Nähe bezeichnet werden kann. Dabei wird aber auch gezeigt, wie mühsam sich Emils Mutter als Friseuse durch das Leben schlägt. "Stadtfein" gemacht und von der Mutter mit guten Ratschlägen versehen, macht sich der "Musterknabe aus der Provinz" auf den Weg in das unbekannte Berlin, in dem alles größer und prächtiger sein soll. Die großen Erwartungen an die Stadt werden während der Bahnfahrt durch die Flunkereien des "Mannes mit dem steifen Hut" durcheinandergebracht und gehen als surreale, alptraumhafte Bilder zum Teil in eine virtuos inszenierte Traumsequenz ein.
Als Emil dann in Berlin ankommt und sich an die Verfolgung des Herrn Grundeis macht, kommt die Großstadt als "Mitwirkende" ins Spiel. Ebenso wie Kästner die Großstadt ins Buch, hat Lamprecht die Großstadt in den Film gebracht. (Möbius/Vogt 1990, 52f)
Der Film wurde zum Teil an Originalschauplätzen gedreht und läßt durch seine dokumentarischen Szenen das Bild einer komplexen Stadtgesellschaft entstehen, die Handlungsspielräume für Abenteuer und Entdeckungsfahrten aller Art bietet. Das "eigentliche Leben" spielt sich in den Straßen der Stadt ab und fordert "die neuen Helden" dazu heraus, sich mit realen Verhältnissen auseinanderzusetzen. Tempo und Bewegung sind die Grundzüge großstädtischen Lebens. Eine Topik, die sich beispielhaft in der spannenden Verfolgungsjagd mit dem Taxi zeigt. Bewußt wird durch Bildelemente wie "schnelle" Autofahrt, laufender Taxameter, belebte Straßenzüge, moderne Hausfassaden, städtische Wahrzeichen wie "Dom" und "Rotes Rathaus" ein Wahrnehmungszusammenhang komponiert, bei dem sich auch Assoziationen wie Dynamik, Verkehr, Geschäftigkeit oder Vielfalt des Lebens einstellen. Die großstädtische Bildwirkung ist offensichtlich Produkt der "schnellen" dokumentarischen Erzählweise. Glaubt man zeitgenössischen Beobachtern, zeigt sich das "wirkliche" Berlin in einer anderen Gestalt. "Fährt man mit einem Auto langsam durch Berlin, kommt man aus einer kleinen Stadt in eine andere. Diese Städte sind leer." (vgl. Bienert 1992, 118)
Eben diese Wahrnehmung hätte sich vermutlich eingestellt, wenn als Drehort das beschauliche "Bayerische Viertel" der literarischen Vorlage gewählt worden wäre, in dem sich die "Original-Taxifahrt" abspielt. Der Film vermittelt hier also nicht so sehr ein realistisches Bild von Berlin, als vielmehr ein Bild davon, was Anfang der 30er Jahre als großstädtisch gilt.
Diesen dokumentarischen Stil Lamprechts interpretiert Siegfried Kracauer als eine Ausdrucksform "demokratischen Geistes":" Saubere, unprätentiöse Dokumentaraufnahmen von Berliner Straßenszenen porträtieren die deutsche Hauptstadt als eine Stadt, in der demokratische Grundrechte blühen und gedeihen. Die helle Atmosphäre, die in diesen Passagen herrscht, kontrastiert mit dem Dunkel, das um Fritz Rasp als Dieb unweigerlich herrscht." (Kracauer 1979, 236)
Man mag dieser Einschätzung Kracauers folgen oder nicht (vgl. Hembus/Bandmann 1980, 48), grundsätzlich ist festzustellen, daß "die Großstadt" im Film eine wichtige Funktion für den Aufbau der Handlung bekommt. Zunächst einmal wird der Provinzler Emil für das Großstadtleben richtig in Form gebracht. Dies besorgt "Gustav mit der Hupe", der Emils Outfit entsprechend locker herrichtet. In dieser Szene finden sich auf Anhieb zwei in ihrem Charakter verschiedene "Pfundskerle":
- Auf der einen Seite Emil, der intelligente "Musterknabe", höflich, freundlich, bescheiden, bisweilen schnell beleidigt und auch rauflustig.
- Auf der anderen Seite der Pragmatiker Gustav, mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. Er zeigt sich als Integrationsfigur für die Jungen der "Landhausbande", ist dabei "hell im Kopf", gutmütig, hilfsbereit, schlagfertig und praktisch veranlagt. Ihm gelingt es kraft seiner Persönlichkeit, die "Landhausbande" auf die Detektivarbeit einzuschwören.
Zu diesem Führungsduo kommt als dritte Kraft der "Professor" hinzu, ein ambivalenter Held. Er ist schroff, rechthaberisch, wichtigtuerisch und befiehlt gern.
Unter der Leitung dieses Trios organisiert sich die Kindergesellschaft "wie von selbst". Dabei spiegeln die dargestellten Sprach- und Handlungsweisen der ungekünstelt agierenden Großstadt-Indianer offensichtlich zeitidentische Alltagserfahrungen von Kindern wider. So berichtet Hans Richter von den Dreharbeiten zum Film:
"Auf die Rolle sind wir nicht groß vorbereitet worden. Denn das wäre auch ganz falsch gewesen. Man hat diese aus allen Berliner Schulen zusammengewürfelte Horde von Jungen genommen und die fünf Hauptrollen... Die Szenen ergaben sich im Spiel, in der Improvisation. Meine große Szene mit der Großmutter hat man ein paar Mal geprobt. Man hat mir gesagt, du kommst rein, sagst der Großmutter das so und so, sagst ‘Hugh, ich habe gesprochen’, nimmst deinen ‘Mustang’, den Roller, und gehst. Ein paar Mal ist das aufgenommen worden." (Schneider 1982, 16)
Beim Durchqueren der Stadt erfahren "Emil und die Detektive" nun, worauf es im Leben ankommt, wenn man "weiterkommen" will: Man muß ein Ziel beharrlich verfolgen, man muß Mut zeigen, man muß Verständnis füreinander aufbringen und manchmal auch verzichten können, und wenn man sich gegenseitig hilft, hat man Erfolg. Dies sind zwar keine demokratischen Tugenden an sich, aber als sozialintegrative Kompetenzen sind sie wichtig für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft (vgl. Tornow 1998, S. 35). Indem der Film dies an einer spannenden Geschichte mit deutlichem Wirklichkeitsbezug vorführt, ist er auch derzeit noch aktuell und läßt sich dazu nutzen,
- um Kindern Zeitgeschichte erlebnisnah zu präsentieren,
- und um mit Kindern zu diskutieren, was uns Fähigkeiten wie Zivilcourage, Hilfsbereitschaft und Solidarität heute bedeuten.
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