Michael Wagner, Thema Computerspiel: Zum Mythos der Tötungshemmung (2009)
Eigentlich wollte ich diesen Aufsatz nie schreiben. Denn mit Nichts ist in der Computerspielforschung so schwierig umzugehen wie mit dem immer wiederkehrenden Argument, das amerikanische Militär würde Computerspiele in seinen Trainingsprogrammen einsetzen, um Soldaten zu desensibilisieren und so die Tötungshemmung zu reduzieren. Es besteht nämlich gar kein Zweifel, dass das amerikanische Militär (wie übrigens viele andere Militärs auch) nahezu Alles (also auch Computerspiele) erforscht und im militärischen Einsatz erprobt. Selbst verschiedene Glaubensrichtungen der Parapsychologie und Metaphysik sind so zu Ehren gekommen.
Gleichzeitig ist aber auch nicht wirklich zu erwarten, dass das Militär zu diesem Thema brauchbare Ergebnisse in wissenschaftlich relevanter Form publizieren würde. Denn wenn eine derartige Methode funktioniert würde, so würde sie zum militärischen Geheimnis, um den daraus resultierenden Vorteil zu sichern. Wenn sie hingegen nicht funktionieren würde, so würde sie zum militärischen Geheimnis, um sich vor unangenehmen Nachfragen zu schützen. Man kennt dieses Prinzip aus vielen anderen Fragestellungen. Und so muss man erwarten, dass das Argument der militärischen Anwendung von Computerspielen zum Zweck der Reduktion der Tötungshemmung zwangsläufig eigentlich immer ein Totschlagargument für jede wissenschaftliche Diskussion bleiben muss da man keine gesicherten Details in Erfahrung bringen kann.
Was mich in den letzten Wochen allerdings dann doch dazu veranlasst hat, mich mit dieser Thematik einmal näher zu beschäftigen, sind die überraschend genauen Angaben die in letzter Zeit zu dem vermuteten Desensibilisierungseffekt gemacht wurden. So sprach der Kriminologe Christian Pfeiffer in der von mir bereits früher kritisierten Sendung "Hart aber Fair" von einer Reduktion der Tötungshemmung von 75% auf 35%. Noch radikaler formulierte der Waffenexperte und Journalist Dagobert Lindlau in der ZDF Sendung "Maybrit Illner" vom 26.3.2009 seinen Wissensstand in Sachen Tötungshemmung:
"Das ist erwiesen. Das ist etwas worüber wir nicht spekulieren müssen. Die Amerikaner haben fest gestellt, dass ihre Soldaten in bewaffneten Nahkampfsituationen zu 80% eine Hemmung haben, den anderen nieder zu schießen. Nach der Schulung mit solchen Dingen, die wir unseren Kindern zumuten sinkt das auf 20%. Das sind Zahlen, die nicht zu widerlegen sind."
Nun stellt sich hier sofort die Frage, woher diese Zahlen stammen und was genau eine Tötungshemmung von 75% oder auch 80% denn eigentlich bedeutet. Und wie, um Himmels Willen, wird dies methodisch sauber gemessen?
Versucht man diese Fragen zu beantworten, stellt man schnell fest, dass es gar nicht so einfach ist den Ursprung dieser Zahlen ausfindig zu machen. Denn in der Regel findet sich die Aussage zur Reduktion der Tötungshemmung selbst in an und für sich wissenschaftlich angelegten Arbeiten ohne genaue Quellenangabe. Eine Internetrecherche nach dem Begriff der "Tötungshemmung" ergibt weiters, dass die Existenz dieses Konzeptes an und für sich umstritten ist. Da es sich dabei nicht um mein Fachgebiet handelt, möchte ich in dieser übergeordneten Frage allerdings nicht mitspekulieren und nehme daher im Folgenden an, dass beim Menschen tatsächlich eine Tötungshemmung beobachtet werden kann.
Bei genauerer Analyse der deutschsprachigen Literatur stellt sich nun heraus, dass die Angaben zur Tötungshemmung mit höchster Wahrscheinlichkeit aus den Arbeiten des amerikanischen Militärpsychologen Dave Grossman stammen. Grossman, der interessanterweise selbst niemals promoviert sondern seine akademischen Ehrungen über seine Lehrtätigkeit an der Militärakademie in West Point erlangt hat, leitet derzeit die private "Warrior Science Group" über die er seine Theorie der Killology (also der Wissenschaft des Tötens) verbreitet. Grundlage der Killology ist das Buch "On Killing" sowie das Folgewerk "On Combat" die sich beide auch ausgiebig mit Videospielen beschäftigen.
Selbst wenn die Angaben zur Tötungshemmung nicht direkt von Grossman stammen, so kann man dennoch aufgrund seiner Laufbahn als Militärpsychologe und Ausbildner an der Eliteschule des amerikanischen Militärs davon ausgehen, dass sich die in der deutschen Diskussion vorgebrachten Ergebnisse in seinen Werken zumindest wieder finden sollten. Überraschenderweise ist auch dies nicht der Fall. So schreibt er in seinem Buch "Wer hat unseren Kindern das Töten beigebracht?" (im Original "Stop Teaching Our Kids to Kill") auf Seite 87 lediglich:
"Die Einführung von Simulatoren ist unbestreitbar verantwortlich für den Anstieg der erfolgreich tötenden Soldaten von 15 bis 20 Prozent im Zweiten Weltkrieg auf 95 Prozent im Vietnamkrieg. Im Falklandkrieg lag dieser Wert für die argentinischen Soldaten, die mir zivilen Zielscheiben übten, bei 10 bis 15 Prozent. Dagegen erreichten die mit modernen Methoden trainierten britischen Soldaten über 90 Prozent. Daher wissen wir, dass – unter ansonsten gleichen Umständen – 75 bis 80 Prozent aller tödlichen Schüsse auf dem modernen Schlachtfeld eine unmittelbare Folge des Einsatzes von Simulatoren sind."
Methodisch wurde also nur festgestellt, dass in den militärischen Konflikten des 20. Jahrhunderts eine Korrelation zwischen der Effizient von Soldaten und deren technologischer Unterstützung beobachtet wurde. Videospiele kommen nur deshalb ins Spiel, da sie Simulatoren ähneln und oftmals auch auf derselben Technologie basieren. Dies erinnert sehr stark an die auch von Manfred Spitzer verbreitete These des Epidemiologen Centerwall, wonach es einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Tötungsdelikte und dem Besitz (wohlgemerkt dem Besitz und nicht der Nutzung) von Fernsehapparaten geben soll (nachzulesen in "Vorsicht Bildschirm!"). Dass es den Autoren dieser Thesen nicht wirklich um Wissenschaftlichkeit geht, macht Grossman auf Seite 91 von "Wer hat unseren Kindern das Töten beigebracht?" klar:
"Man kann mit Sicherheit sagen, dass diese Technologie in den Händen von Kindern sehr viel gefährlicher ist, als in denen von Soldaten oder Polizisten – die erwähnten Beispiele belegen dies ebenso wie der gesunde Menschenverstand."
Es handelt sich hier also um Wissenschaft auf Basis des so genannten gesunden Menschenverstandes. Als Ziel genannt werden die Disziplinierung der Gesellschaft und die Reinigung unserer krankhaften Triebe vom Unheil einer freien Medienkultur. Auch hier ist Grossman sehr eindeutig, wenn er in "On Combat" auf Seite 232 nahezu sektenhaft schreibt:
"I am joining our medical community in stating that, from the perspective of my area of expertise in enabling killing in combat, in impact of violent TV, movies, and (most especially) video games on kids should be condemned. Like the Al-Quaida terrorist, the kamikaze pilot, of the Nazi SS, these kids have immersed themselves in a sick culture, and they have convinced themselves that what they are doing is good, appropriate and necessary. The school shooters are all products of our sick culture, and those who immerse themselves in our sickest part of our sick culture have potential to be very sick indeed."
Zusammengefasst sei hier festgestellt, dass die derzeit im Umlauf befindlichen Aussagen zur Reduktion der Tötungshemmung auf Arbeiten basieren, die einer üblichen wissenschaftlichen Kritik in keiner Weise standhalten können. Hier werden Militärsimulationen mit Computerspielen in einen Topf geworfen und Korrelationen kausale Zusammenhänge zugestanden, die teilweise an der Haaren herbeigezogen sind. Es handelt es sich hierbei ganz klar um einen Mythos auf Basis der Medieninkompetenz seiner Verbreiter.
Abschließend noch eine kurze Bemerkung zum Computerspiel "America’s Army", dessen Bedeutung meiner Meinung nach extrem überschätzt wird. Die Entwicklungskosten des Spiels beliefen sich unbestätigten Meldungen zufolge auf ca. 5 Millionen Euro. Das gesamte Militärbudget der USA betragen sich derzeit auf jährlich ca. 500 Milliarden Euro. Das Spiel kostete also in etwa 0,001 Prozent eines Jahresbudgets. Bei allem Verständnis für die Befürchtungen rund um dieses Spiel sei hier doch sehr deutlich angemerkt, dass diese Prozentzahl komplett anders aussehen würde, wenn es sich bei America’s Army wirklich um einen derartigen militärischen Erfolg handeln würde wie manchmal übereifrig kolportiert wird.
Quelle:
Computer Games Studies - Weblog zur Wiener Computerspielforschung
http://www.gamestudies.at/2009/03/zum-mythos-der-t%C3%B6tungshemmung.html
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