Netzneutralität als Bedingung persönlicher, kultureller und demokratischer Teilhabe, Stellungnahme des GMK-Bundesvorstandes (2013)
"Netzneutralität" hat durch die Ankündigung der Deutschen Telekom AG (DTAG), zukünftig unterschiedliche Datendienste unterschiedlich zu behandeln, heftige Diskussionen ausgelöst. So hatte die DTAG angekündigt, die Geschwindigkeit von Netzzugängen nach dem Erreichen einer bestimmten Datenmenge zu drosseln und zugleich eigene Dienste von dieser Drosselung auszunehmen. Dies ist nur ein Beispiel, wie die Netzneutralität als ein Grundprinzip der Gestaltung und Organisation des Internets derzeit ausgehöhlt wird.
Die Verletzungen der Netzneutralität durch Exklusivrechte und Drosselung bedrohen aus Sicht der GMK - Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur - das Potenzial für politische Teilhabe, internetgestützte Bildung und auch die Chancengerechtigkeit beim Zugang zu Informationen.
Netzneutralität ist in Deutschland noch immer nicht gesetzlich festgeschrieben, aber nach Meinung der GMK stellt sie eine elementare Grundlage für die gleichberechtigte Teilhabe am Internet dar.
Der Zugang zu Informationen und die Möglichkeit zur Mitwirkung an medialen Diskursen sind Grundvoraussetzungen der Teilhabe aller Bürger/-innen an demokratischen Prozessen innerhalb unseres Gemeinwesens. Eine Vielzahl von Studien* belegt, dass das Internet für die jüngeren Generationen nicht nur ein Ort der Kommunikation, der Informationsgenerierung und der Wissensaneignung ist - sondern auch erheblich zur Identitätsentwicklung beiträgt. Das Internet ist nicht nur ein maßgeblich prägender Teil des Lebensraums Jugendlicher, sondern zunehmend auch aller Generationen. Zugleich sind die digitalen Angebote des Internets in vielfältiger Weise bedeutsam für die Bildung in einer digital geprägten Kultur.
Ziel der Medienpädagogik ist es daher, Bürgerinnen und Bürgern notwendige Kenntnisse zu vermitteln, die eine demokratische Teilhabe ermöglichen, Bildungsangebote zu fördern und alle zu unterstützen, ein souveränes Leben in einer von Medien durchdrungenen Lebenswelt zu führen.
Das Internet ist zu einem zentralen Element der technischen, ökonomischen und sozialen Infrastruktur in diesem Land geworden. Die Zugangsmöglichkeiten sind aber ungleich verteilt, z.B. sind bereits heute ländliche Gebiete benachteiligt. Die aktuelle Ankündigung der Telekom eines Netzmanagements der Anschlüsse ihrer Kunden in Verbindung mit einer Ungleichbehandlung der zugänglichen Internetdienste weist daher in eine falsche Richtung. Eine solche Regelung würde die digitale Chancengleichheit und Online-Zugangsgerechtigkeit auf Anbieterseite aushöhlen und dazu führen, dass in Deutschland ein Zwei-Klassen-Internet entsteht. Die vielseitige Nutzung des Internets würde durch die bevorzugte, exklusive Behandlung bestimmter Dienstanbieter andere Dienste und Webangebote in den Hintergrund drängen. Dieses könnte beispielsweise die Mediatheken der öffentlich rechtlichen Sender, Videoportale, E-Learning-Veranstaltungen oder auch Weblogs betreffen.
Für die Schaffung von mehr Chancengleichheit und -gerechtigkeit wäre ein solcher Schritt desaströs.
Netzneutralität betrifft alle Bürgerinnen und Bürger. Welche Bedeutung Netzneutralität für verschiedene Lebensbereiche hat und welche Risiken mit den geplanten Einschränkungen verbunden sind, zeigen wir im Folgenden beispielhaft auf:
1. Politische Teilhabe(chancen)
- Das Internet ist zunehmend Grundlage politischer Teilhabe - es kann auf vielfältige Informationen zugegriffen werden und wesentliche Partizipationsmöglichkeiten sind erst durch das Web ermöglicht worden. o Eine Infrastruktur, die bestimmte Inhalte und Dienste bevorzugt, birgt die Gefahr einer willkürlichen, durch kommerzielle oder politische Interessen geleiteten Blockade unliebsamer Inhalte, z.B. oppositioneller Gruppierungen. o Nur Netzneutralität kann dafür sorgen, dass der gleichberechtigte Zugang zum Netz gewährleistet ist und kein Unternehmen aufgrund kommerzieller Interessen willkürlich Entscheidungen treffen kann. Demokratische Kontrolle muss überdies dafür gewährleisten, dass die Netzneutralität nicht eingeschränkt wird.
2. Bedeutung in der Lebenswelt und für die persönliche und soziale Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und Familien
- Videotelefonie hat für Familien mit Migrationshintergrund eine enorme Bedeutung, denn zum einen können persönliche Beziehungen aufrechterhalten werden. Zum anderen fördert der Zugang zu Medieninhalten aus anderen Ländern einen interkulturellen Dialog, der sich positiv auf die Integration in Deutschland auswirken kann
- Netzangeboten, wie sozialen Netzwerken und Videotelefonie, kommt überdies auch für Patchworkfamilien, jugendliche und erwachsene Pendler und generell zur Pflege von Beziehungen und Freundschaften bei zeitlich stark eingespannten oder räumlich getrennten Menschen aller Generationen eine herausragende Bedeutung zu. Beides kann durch die geplanten Beschränkungen gefährdet werden.
- Für Kinder und Jugendliche stellen Videoportale, wie beispielsweise YouTube und Vimeo, wichtige Erfahrungs- und Entwicklungsräume dar, die ihnen Anregungen und Experimentiermöglichkeiten bieten ( Musik, Foto, Video, Sport, Hobbies ). Diese informellen Lernmöglichkeiten dürfen nicht eingeschränkt werden
- Generell besteht die Gefahr, dass die Internetnutzung bei gemeinschaftlich genutzten Anschlüssen, z.B. von Familien oder Einrichtungen der Medienpädagogik oder Medienbildung, durch die Drosselung oder Bevorzugung von Inhalten stark eingeschränkt wird.
3. Bildungsinnovationen
- Digitale Bildung ist an Hochschulen schon stark verbreitet und beginnt gerade in den öffentlichen Schulen Fuß zu fassen und wird dort auch mit enormen Investitionssummen unterstützt. So zielt die Einführung von interaktiven Tafeln und Nutzung digitaler Medien darauf ab, dass sich Schülerinnen und Schüler auch von Zuhause aus in ein Lernsystem einloggen, Hausaufgaben bearbeiten, Lernmaterialien vorbereiten und diese wieder auf die Schulserver hochladen können. So werden eigenverantwortliches und individuelles Lernen gefördert und zugleich innovative Unterrichtskonzepte ermöglicht. Politik muss sich dafür einsetzen, dass technische Investitionen zu einem Mehrwert an Lern- und Entwicklungschancen für die Schülerinnen und Schüler führen.
- Die Flexibilisierung von Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten durch Blended Learning- Angebote ist mit gedrosselten Zugängen nicht realisierbar. Die Drosselung würde die Modernisierung und Reformierung von Ausbildung, Studium und Weiterbildung bremsen.
- Aufwändig entwickelte Lehr-/Lernkonzepte in Ausbildung, Studium und Weiterbildung müssten damit wieder zurückgefahren werden.
- Personen, deren Lernpräferenzen nicht durch eine kognitiv-rationale, sondern durch eine bildhafte-assoziative Denkweise geprägt sind, lernen eher durch audio-visuelle Bildungsimpulse. Bei ihnen würde die Selbstentfaltung durch selbstgesteuertes Lernen mit audiovisuellen Medien eingeschränkt.
4. Gesellschaftliche und soziale Teilhabe(chancen)
- Menschen mit Behinderungen profitieren besonders von einem freien Internetzugang. Spezielle Anwendungen und Tools unterstützen sie in einer selbstständigen und selbstbestimmten Lebensführung. So stellt z.B. für gehörlose Nutzerinnen und Nutzer der Chat ein äußerst bedeutendes Kommunikationsmedium dar. Menschen mit Körperbehinderungen nutzen das Netz besonders intensiv und häufig, wenn der Zugang erst einmal erlangt wurde. Die geplanten Einschränkungen können zu einer enormen Beeinträchtigung der Lebensqualität führen. Um das gegenwärtig intensiv diskutierte Leitziel der Inklusion voranzubringen, ist die Netzneutralität unverzichtbar.
5. Kritischer Blick auf (Massen-)Medien
- Wichtiges Element für einen kritischen Umgang mit Medien ist der Blick hinter die Kulissen: Wie funktionieren Medien, z.B. Zeitungen, TV, Radio, Internet? Wie manipulativ können Fotos oder Zusammenschnitte im TV sein? Welchen Informationen im Internet kann man trauen? So schwer Informationen und Dienste im Netz zu durchschauen sind, so sicher kann sein: Nur wenn alle Dienste und Informationen technisch neutral sind, besteht die Chance einer kompetenten Bewertung und Einordnung für alle Bürger und Bürgerinnen Deutschlands, daraus folgt die Notwendigkeit einer gleichen Behandlung.
Dies sind nur wenige Beispiele, die die Notwendigkeit von Netzneutralität aus medienpädagogischer Perspektive unterstreichen. Die geplanten Beschränkungen und exklusiven Angebote verringern die Chancen der digitalen Kommunikation, Bildung sowie kulturellen Rezeption und Produktion aller Generationen.
Besonders deutlich zeigen sich die Risiken einer Ungleichbehandlung, wenn bereits jetzt große Unternehmen wie Facebook den Datenverkehr mit ihren Angeboten aus Datentarifen im Mobilfunk auskoppeln und ihre datenschutzrechtlich zweifelhaften Angebote kostenfrei zur Verfügung stellen können. Dies stellt Markthürden für innovative und datenschutzkonforme Angebote dar und benachteiligt sie im Wettbewerb. Wenn sich die Politik nicht gegen diese Marktverzerrung einsetzt, würde dies ihr Engagement der letzten Jahre für zahlreiche erfolgreiche medienpädagogische Kampagnen und Webangebote und die Forderungen nach alternativen Angeboten konterkarieren.
Aus diesen Gründen fordern wir als Dachverband für Medienpädagogik und Kommunikationskultur die Politik auf, Netzneutralität gesetzlich zu verankern und für einen diskriminierungsfreien Zugang aller Nutzerinnen und Nutzer sowie eine diskriminierungsfreie Durchleitung der Inhalte im Internet zu sorgen. Nur so kann gesellschaftliche und demokratische Teilhabe langfristig sichergestellt werden und das Netz als Raum für kulturelle und individuelle Entfaltung genutzt werden.
Der GMK-Bundesvorstand
(Dr. Ida Pöttinger, Prof. Dr. Dagmar Hoffmann, Katja Friedrich, Dr. Sonja Ganguin, Prof. Dr. Bernward Hoffmann, Prof. Dr. Dorothee Meister, Eike Rösch, Daniel Seitz) Die Stellungnahme wurde erarbeitet in Kooperation mit der AG Netzneutralität der GMK: Tanya d ´Agostino, Niels Brüggen, Björn Friedrich, Rüdiger Fries, Franz Josef Röll, Daniel Seitz.
* siehe dazu u.a.:
Lutz, Klaus/Rösch, Eike/Seitz, Daniel (Hrsg.): Partizipation und Engagement im Netz. Neue Chancen für Demokratie und Medienpädagogik. München: kopaed 2012
Schmidt, Jan-Hinrik/Hasebrink, Uwe/Paus-Hasebrink, Ingrid (Hrsg.): Heranwachsen mit dem Social Web: Zur Rolle von Web 2.0-Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Vistas-Verlag 2011
Schmidt, Jan: Das neue Netz: Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0. 2. Aufl. UVK Verlagsgesellschaft mbH 2011
Wagner, Ulrike/Brüggen, Niels (Hrsg.): Teilen, vernetzen, liken. Jugend zwischen Eigensinn und Anpassung im Social Web. Baden-Baden: Nomos (BLM-Schriftenreihe Band 101) 2013
Zerfaß, Ansgar/Welker, Martin/Schmidt, Jan (Hrsg.):Kommunikation, Partizipation und Wirkungen im Social Web: Grundlagen und Methoden: Von der Gesellschaft zum Individuum. Bd 1 / Strategien und Anwendungen: Perspektiven für Wirtschaft, Politik und Publizistik. Bd 2. Halem-Verlag 2006/2008