Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft, Version 3.0 (2003)

Die "Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft" fordert einen an Nachhaltigkeitsprinzipien orientierten freizügigen und inklusiven Umgang mit Wissen und Information. Die Herausforderung der Wissensgesellschaft besteht darin, den Menschen das Wissen anderer über den Zugang zu Information offen zu halten und sie so auf einer sicheren Grundlage handlungsfähig zu machen.
Die Charta setzt einen Akzent gegen die zunehmende Privatisierung und Kommerzialisierung von Wissen und Information. Denn eine Gesellschaft, in der der Schutz von geistigem Eigentum das Wissen zunehmend zum knappen Gut macht, ist nicht nachhaltig.

o Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft, wenn in ihr erstrittene Menschen- und Bürgerrechte für die Zukunft elektronisch bestimmter Umwelten bewahrt und gefördert werden. .

o Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft, wenn der Zugang zum Wissen freizügig und inklusiv ist, und kooperative Formen der Wissensproduktion als Grundlage für die Entfaltung von Innovation und Kreativität gefördert werden. .

o Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft, wenn in ihr gesichertes Wissen die Grundlage für wirksame Maßnahmen für die Bewahrung unserer natürlichen Umwelt bildet. Denn diese ist gerade auch durch den steigenden Ressourcenverbrauch bedroht, der von der massenhaften Verbreitung von Informationstechnologien ausgeht. .

o Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft, wenn der Zugriff auf Wissen und Information allen Menschen weltweit die Chance eröffnet, sich in ihrem privaten, beruflichen und öffentlichen Leben selbstbestimmt zu entwickeln, und wenn er zukünftigen Generationen den Zugang zu dem in medialer Vielfalt dargestellten Wissen der Vergangenheit bewahrt. .

o Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft dann, wenn die Entwicklungsmöglichkeiten des Nordens nicht weiter zu Lasten des Südens und die Entwicklungsmöglichkeiten von Männern nicht weiter zu Lasten von Frauen gehen. .

Die "Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft" proklamiert folgende Werte und Rechte, die es für BürgerInnen in der globalen Wissensgesellschaft zu bewahren und zu fördern gilt: .

1. Wissen ist Erbe und Besitz der Menschheit und damit frei.

Wissen stellt das Reservoir dar, aus dem neues Wissen geschaffen wird. Daher muss Wissen dauerhaft öffentlich zugänglich bleiben. Die Einschränkung des öffentlichen Zugangs durch Urheber- und Patentansprüche muss demgegenüber die Ausnahme darstellen. Die daraus abgeleiteten Verwertungsansprüche stehen in einem Spannungsverhältnis zum gesamtgesellschaftlichen Interesse an Wissen als öffentlichem Gut. In der gesellschaftlichen Wertehierarchie muss die Stellung von Wissen als Gemeingut vor dem Schutz partikularer Interessen Vorrang haben. .

2. Der Zugriff auf Wissen muss frei sein.

Zentrales Ziel einer nach nachhaltigen Prinzipien organisierten Wissensgesellschaft ist, dass in der Gegenwart, aber auch für zukünftige Generationen der Zugriff auf Wissen in allen medialen Formen für alle, zu jeder Zeit, von jedem Ort und zu fairen Bedingungen möglich sein muss. Das gilt für alle Gesellschaftsbereiche, nicht nur für die Wissenschaft. Nur ein freizügiger Umgang mit Wissen und Information ermöglicht die demokratische Teilhabe am öffentlichen Geschehen und fördert Kreativität und Innovation in Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur. Einschränkungen des Prinzips der Freizügigkeit sind nur über demokratische Kontrollmechanismen möglich. .

3. Die Überwindung der digitalen Spaltung muss als Politikziel hoher Priorität anerkannt werden.

Die digitale Spaltung, die Spaltung der Bevölkerung in Gruppen, die Zugang zu den neuen Medien haben, und diejenigen, die außen vor bleiben, hat sich entlang der traditionellen - d.h. vor allem sozialen, ethnischen und geschlechtsbezogenen - Spaltungen entwickelt. Die ungerechte Verteilung von Chancen wird durch eingeschränkten Zugang zu den Informations- und Kommunikationstechnologien weiter verschärft. Sie ist ein globales Problem, das sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Gesellschaften besteht.
Es ist unverzichtbar, allen Menschen den Zugang zu alten und neuen Medien zu ermöglichen. Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels müssen an lokale Bedingungen und spezifische Bedürfnisse angepasst sein und Nachhaltigkeit sicherstellen. Öffentliche Zugangsorte und die Vermittlung von Medienkompetenz tragen dazu bei, dass alle Menschen in die Lage versetzt werden, sich in der Vielfalt medialer Angebote zu orientieren, ihre Inhalte zu bewerten, eigene Inhalte zu produzieren und für die persönliche Lebensführung sinnvoll zu nutzen. .

4. Alle Menschen haben das Recht auf Kommunikation und Informationsfreiheit.

Der Zugang zu Informationen und Wissen und die freie Kommunikation sind wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung der Persönlichkeit, für die politische Partizipation der BürgerInnen und die Entwicklung der Menschheit insgesamt. Informationsfreiheit macht politisches Geschehen transparent, kann Korruption verringern und das Management von Informationen in den öffentlichen Verwaltungen verbessern. Die Geheimhaltung der Handlungen von Verwaltungen und politischen Gremien ist deshalb stets legitimationsbedürftig und in engen Grenzen im Rahmen gesetzlicher Regelungen zu halten.
Alle Menschen sollen das Recht haben, sich aus allen öffentlich zugänglichen Quellen ungehindert und ohne erzwungene Filter, Manipulation und Kontrolle zu unterrichten. Dies schließt insbesondere das Recht auf Zugang zu den Dokumenten öffentlicher und öffentlich kontrollierter Einrichtungen sowie in Fällen von besonderem öffentlichen Interesse auch den Zugriff auf Informationen und Wissen in privatem Besitz ein. Gleich wichtig ist eine damit einhergehende Verpflichtung aller Regierungsstellen zu möglichst umfassender (elektronischer) Publikation von Informationen öffentlichen Interesses.

5. Die ArbeitnehmerInnenrechte müssen auch in der elektronisch vernetzten Arbeitswelt gewährleistet und weiterentwickelt werden.

Der Schutz der Würde des Menschen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit und das Gleichheitsgebot sind individuelle Freiheitsrechte von großer Bedeutung auch in der Arbeitswelt. Die Koalitionsfreiheit abhängig Beschäftigter einschließlich des Rechts, sich in selbst gewählten Interessenvertretungen zu vereinigen, gehört zu den Voraussetzungen für die Verwirklichung dieser Freiheiten. Beschäftigte sollten an ihrem Arbeitsort freien und unzensierten Zugang zum Internet haben. ArbeitnehmerInnen und ihre Interessenvertretungen müssen Zugang zum Kommunikationssystem (Intranet) ihrer Betriebe haben. Das Recht auf Privatheit muss auch in der Arbeitswelt geschützt, Überwachung und das Erstellen von Nutzerprofilen verhindert werden.

6. Kulturelle Vielfalt ist Bedingung für individuelle und nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung.

Kultur verwirklicht sich in den Sprachen, Verhaltensweisen, Normen und Lebensformen, aber auch in den menschlichen Artefakten (wie etwa Handwerk, Kunst, Technik). Die Entwicklung der globalen Wissensgesellschaft darf nicht zu einer Homogenisierung der Kulturen führen. Vielmehr müssen die kreativen Potentiale der gegenwärtigen Informations- und Kommunikationstechnologien dafür genutzt werden, dass die Vielfalt der Kulturen und Sprachen als Bedingung individueller und gesellschaftlicher Entwicklung für Gegenwart und Zukunft bewahrt und befördert wird. Es muss sichergestellt werden, dass in einem durch Vielfalt und Gleichberechtigung geprägten Umfeld ein Dialog der Kulturen stattfinden kann.

7. Mediale Vielfalt und das Angebot von Information aus unabhängigen Quellen sind unerlässlich für den Erhalt einer aufgeklärten Öffentlichkeit.

Medien und deren Inhalte werden zunehmend von wenigen globalen Akteuren kontrolliert. Dieser Konzentration auf den internationalen Medienmärkten muss entgegengewirkt werden. Es liegt in der öffentlichen Verantwortung, bestehende und neue Formen von Medienöffentlichkeit zu fördern. BürgerInnenmedien ohne Profitorientierung und demokratisch kontrollierten öffentlichen Angeboten ist verstärkt Raum zu geben. Meinungs- und Pressefreiheit sind durch Kommunikationsrechte zu ergänzen, die den BürgerInnen einen Anspruch gewähren, sich in Kommunikationsprozesse einzubringen und Medien selbst zu gestalten.

8. Offene technische Standards und offene Formen der technischen Produktion garantieren die freie Entwicklung der Infrastrukturen und somit eine selbstbestimmte und freie Kommunikation.

Proprietäre Lösungen in Bezug auf Protokolle und Standards von Netztechnologien, Rechnerarchitekturen und Softwareapplikationen führen zu Monopolbildungen und behindern Innovationen. Darüber hinaus besteht bei staatlichen Infrastrukturmonopolen wie bei privatwirtschaftlichen Technikmonopolen die Gefahr, dass die Macht zur Standardsetzung auch inhaltliche Einschränkungen der Informations- und Kommunikationsfreiheiten vieler Menschen nach sich zieht. Dagegen sind offene technische Standards unverzichtbare Bedingung für die Förderung freier und offener Softwareentwicklung und für selbstbestimmte Kommunikation.

9. Das Recht auf Achtung der Privatheit ist ein Menschenrecht und ist unabdingbar für die freie und selbstbestimmte Entfaltung von Menschen in der Wissensgesellschaft.

Die Achtung der Privatheit ermöglicht gleichermaßen die aktive Teilhabe wie auch die Distanznahme von den Möglichkeiten und Angeboten der Gesellschaft. Jeder Mensch hat das Recht, frei zu entscheiden, ob und auf welche Art und Weise er sich informieren und mit anderen kommunizieren will. Dabei ist auch zu gewährleisten, dass jeder sich anonym - aus was für Quellen auch immer - informieren kann. Die Macht privater und staatlicher Akteure über Informationen zu einzelnen Personen und die damit verbundenen Risiken eines manipulativen Zugriffs und der Überwachung sind auf ein gesetzlich legitimiertes Mindestmaß zu beschränken. Über die Erhebung, Verarbeitung und Weitergabe der ihn betreffenden Informationen - durch wen auch immer - soll jeder Mensch selbst verfügen können.

Die "Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft" ist das Ergebnis eines von der Heinrich-Böll-Stiftung initiierten Diskussionsprozesses. In der vorliegenden Fassung sind Anregungen der TeilnehmerInnen am off- und online Diskussionsprozess im Frühjahr 2003 berücksichtigt. Die Charta ist ein Beitrag zur zivilgesellschaftlichen Vorbereitung auf den im Dezember 2003 stattfindenden UN "Weltgipfel zur Informationsgesellschaft" (WSIS). An der Redaktion haben mitgewirkt:
Markus Beckedahl, Netzwerk Neue Medien; Gabriele Beger, Deutsche Gesellschaft für Informationswissenschaft und -praxis; Ralf Bendrath, FOGIS; Dr. Johann Bizer, Datenschutz und Datensicherheit; Dr. Christoph Bruch, Humanistische Union; Jutta Croll, Stiftung Digitale Chancen; Olga Drossou, Heinrich-Böll-Stiftung; Wolf Goehring, Fraunhofer Institut Autonome Intelligente Systeme; Dr. Ralf Grötker, freier Journalist; Arne Hintz, Indymedia; Dr. Jeanette Hofmann, Wissenschaftszentrum Berlin; Prof. Hans J. Kleinsteuber, Universität Hamburg; Prof. Rainer Kuhlen, Universität Konstanz; Deutsche UNESCO Kommission, Alvar Freude, odem.org; Nils Leopold, Humanistische Union; Prof. Bernd Lutterbeck, Technische Universität Berlin; Annette Mühlberg, Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di; Oliver Passek, Netzwerk Neue Medien; Dr. Andreas Poltermann, Heinrich-Böll-Stiftung; Jan Schallaböck, Heinrich-Böll-Stiftung; Petra Schaper-Rinkel, Freie Universität Berlin; Dr. Thomas Schauer, Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung (FAW); Rena Tangens und padeluun, Art d'Ameublement; FoeBuD Big Brother Awards Deutschland; Till Westermayer, Netzwerk Neue Medien

Quelle:

www.worldsummit2003.de