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Thomas Schnaak,Susanne Böhmig, Inklusive Medienpädagogik - Was ist das?(2012)
Nach einer Studie von Aktion Mensch aus dem Jahre 2010 (1) sind Menschen mit Behinderung fast sieben Tage in der Woche online, Menschen ohne Behinderung dagegen deutlich weniger. Demnach ist es für Menschen mit Behinderung von besonderer Bedeutung, mithilfe des Internets soziale Kontakte zu pflegen, sich mit anderen auszutauschen und selbständig Informationen zu recherchieren. In der Medienpädagogik wurde diese Personengruppe trotzdem bisher wenig beachtet. Durch die Vorgabe, die Gesellschaft inklusiver zu gestalten, wird auch die Medienpädagogik gefordert, sich mit dem Thema Inklusion zu beschäftigen. Doch was ist unter einer inklusiven Medienpädagogik zu verstehen?
Rahmenbedingungen
Blicken wir zuerst auf die Rahmenbedingungen, die eine inklusive Medienbildung umgeben. Da sind vor allem die gesellschaftlichen Strukturumbrüche in den letzten drei Jahrzehnten zu nennen, die sich auch unter dem Begriff Transformationsgesellschaft fassen lassen. Darunter wird der Wandel von einer Industrie- hin zu einer Wissensgesellschaft verstanden. Diese Entwicklung wird oft eher negativ betrachtet, da durch den Wandel auch unübersichtliche Lebensverhältnisse und zunehmende Desorientierung hervorgerufen werden können. (2) Modernisierung sollte immer an eine reflexive Auseinandersetzung gekoppelt sein, die – im Unterschied zur bloßen Anpassung – vielmehr auch Handlungsalternativen offen lässt. (3) Für die Medienpädagogik sind in diesem Zusammenhang besonders die Stichworte "Beschleunigung der Wissensproduktion“ und "galoppierende technische Entwicklung“ wichtig, da sie die medienpädagogische Arbeit direkt betreffen. Gerade die technische Entwicklung bietet für die inklusive Arbeit ganz neue Möglichkeiten und Chancen.
In der medienpolitischen Debatte, die darauf Bezug nimmt, lassen sich zwei unterschiedliche Argumentationslinien zurückverfolgen:
- Der eine Diskussionsstrang billigt den modernen Medien eine große Bedeutung für die Herausbildung von "Humanressourcen“ zu; zum Beispiel haben viele große Unternehmen inzwischen sogenannte Diversity-Managerinnen und Diversity-Manager, die sowohl für Menschen mit Behinderung als auch für Menschen mit Migrationshintergrund, Familien etc. geeignete Arbeitsstrukturen schaffen sollen.
- Der zweite Diskussionsstrang formuliert den Anspruch, dass Medienbildung mit einer emanzipatorischen Teilhabe an der Gesellschaft verbunden sein muss. Dazu gehören zum Beispiel Projekte, die die Überwindung einer digitalen Spaltung in der Gesellschaft erreichen wollen.
Diese beiden Aspekte sollen bei einer inklusiven Medienpädagogik zusammengedacht und –gebracht werden.
- Sie setzt sich für das Zugänglichwerden von Medien in beruflichen Anwendungskontexten ein,
- hat aber zugleich auch den Zugang zu medienbezogenen Freiräumen im Blick, die es Menschen mit spezifischen Voraussetzungen ermöglichen, sich als mündige Bürger zu erleben.
Zugangsvoraussetzungen
Die spezifischen Zugangsvoraussetzungen sind vielfältig und beziehen unterschiedliche physische, intellektuelle, soziale und emotionale Fähigkeiten ein. Auf der 1994 in Salamanca abgehaltenen Weltkonferenz "Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität“ wurde eine schlüssige Definition von Inklusion gefunden. Demnach zielt Inklusion nicht nur auf die Partizipation von Menschen mit Behinderung, sondern geht viel weiter. Darin sind verschiedene Identitätsfaktoren eines Menschen wie Alter, Geschlecht, ethnische und soziale Herkunft sowie kulturelle Traditionen eingeschlossen.
Deshalb sollte eine inklusive Medienpädagogik die guten Erfahrungen, die in der interkulturellen und sonderpädagogischen Medienarbeit gesammelt wurden, aufnehmen und zu einem umfassenderen Ansatz von Vielfalt weiterentwickeln. Das bedeutet vor allem auch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zum Beispiel mit Fachkräften der Sonderpädagogik.
Kultursensibilität
Da sich Inklusion nicht nur auf Menschen mit Behinderung bezieht, ist das Gebiet der kultursensiblen Medienpädagogik ein wichtiger und bisher wenig thematisierter Baustein für die Umsetzung.
Kultursensibler Umgang mit Medien bedeutet, "... im eigenen Handeln die Situation jedes und jeder einzelnen Beteiligten zu berücksichtigen, wie sie durch Alter, Geschlecht, Bildungshintergrund, soziales/berufliches Milieu, Lebenserfahrung, Berufserfahrung, regionale/sprachliche Herkunft, familiäre Lebensumstände und andere Faktoren geprägt ist“. (4)
Barrierefreiheit
Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Teilhabe ist, dass interaktive Angebote allen Interessierten zugänglich sind. Hier besteht bei den Herstellern von Softwareangeboten nach wie vor ein großer Bedarf an Know-how.
Als Grundlage kann hier die aktuelle "Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung“ (kurz: BITV 2.0) dienen. Sie gilt allerdings nur verbindlich für Internetangebote, öffentlich zugängliche Intranetauftritte sowie grafische Programmoberflächen von Bundesbehörden. (5) Private und kommerzielle Anbieter sind rechtlich nicht zu technischen Anpassungen angehalten. Sie können sich aber auf freiwilliger Basis an den BITV 2.0-Richtlinien orientieren und ihre Inhalte entsprechend aufbereiten. Das ist auch unbedingt erforderlich, steht aber nicht selten den wirtschaftlichen Zwängen auf einem Markt entgegen, der von einem harten Wettbewerbsdruck geprägt ist. Hier ist längerfristig die Politik gefragt, um eine Gesetzeslage zu schaffen, die den Herstellern die Vorgabe macht, ihre Produkte barrierefreier zu gestalten. Dabei sei als Vorbild die USA genannt, die ein Regelwerk haben, die Section 508 (6), das von allen Firmen erfüllt werden muss, die an die Regierung Waren oder Dienstleistungen verkaufen. In jedem Fall aber sollten die Entwickler und Programmanbieter geschult und mit dem kreativen Instrumentarium einer barrierefreien Informationstechnik vertraut gemacht werden.
Inhalte und Methoden
Eine inklusive Medienpädagogik wird bei der Auswahl von Inhalten und Methoden immer auf die unterschiedlichen Zugänge und Lerntempi antworten müssen. Der vielleicht wichtigste Punkt beim Aufbau eines medienpädagogischen Projektes ist die methodische Vielfalt, d.h. eine binnendifferenzierte Strukturierung. Viele medienpädagogische Projekte sind im Grunde schon so aufgebaut und müssten dann eventuell noch genauer auf die einzelnen Teilnehmenden angepasst werden.
Diese Vielfalt bringt auch neue Herausforderungen mit sich. Zum Beispiel benötigen Menschen mit Behinderung individuell anpassbare Hilfsmittel auf der Hard- und Softwareebene, um gemeinsam mit anderen ein Medienprojekt gestalten zu können. Dies bedeutet für die Pädagoginnen und Pädagogen, dass sie sich Wissen zu diesen Technologien aneignen und gegebenenfalls Fachkräfte zur Beratung hinzuziehen müssen.
Gleichzeitig entschleunigen sich pädagogische Prozesse, wenn die individuelle Förderung von Teilnehmenden im Rahmen einer nicht homogenen Gruppe zunehmend an Bedeutung gewinnt. Das heißt für die Pädagoginnen und Pädagogen auch, sich über die Unterschiede ausreichend zu informieren, um diese für die Moderation eines gemeinsamen pädagogischen Prozesses erfolgreich nutzen zu können und jeder/jedem Beteiligten einen ihr/ihm gemäßen Weg zu ermöglichen. Dadurch kann der Aufwand eines medienpädagogischen Projektes steigen. Wie bei allen neuen pädagogischen Ideen wird es auch hier eine Phase der Umstellung und Umgewöhnung geben, die Neugierde, Kreativität, Geduld und Frustrationstoleranz erfordern.
Eine inklusive Medienpädagogik ist demnach binnendifferenziert, barrierearm und kultursensibel. Ihre Kernaufgabe besteht – in Anlehnung an Dieter Baacke (7) - darin, Medienkompetenz auf vier Ebenen zu vermitteln:
- Mediennutzung
- Medienkunde
- Mediengestaltung
- Medienkritik.
Inklusion steht dabei als Synonym für eine Medienpädagogik der Vielfalt, die es allen Interessierten erlaubt, ungehindert Medienkompetenz zu erwerben. Sie folgt dem methodischen Grundsatz der Aufforderung zur Selbsttätigkeit – pädagogische Fachkräfte setzen Impulse und organisieren die Rahmenbedingungen, um ein höchstmögliches Maß an Selbständigkeit zu ermöglichen.
Inklusive Mediennutzung
Was die Nutzungsebene betrifft – zum Beispiel das Fernsehen – so sollten die Medienangebote:
- in der Breite und Tiefe sowohl kultursensibler als auch barriereärmer sein.
Momentan sind Menschen mit Behinderung nicht ausreichend medial präsent und wenn, dann werden sie häufig in einer Sonderrolle gezeigt, die sie für sich selbst oftmals ablehnen. Wer Ausgrenzung vermeiden möchte, der kommt als Programmgestalter und als medienpädagogische Fachkraft nicht umhin, in Serien und Filmen verstärkt Klischees zu hinterfragen, Stereotypisierungen zu durchbrechen und die Vielfalt von Lebensstilen als Selbstverständlichkeit darzustellen.
Ein zweiter Punkt von Inklusion auf der Nutzungsebene, der allerdings mehr die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten betrifft, ist die Barrierefreiheit der Angebote. Damit die Sendungen allen zugänglich sind, sollten beispielsweise für Menschen mit Hörbehinderung Untertitel zuschaltbar sein, Gehörlose auf Gebärdendolmetscher zugreifen und Menschen mit einer Sehbehinderung fernsehbegleitendes Sprechen auswählen können. Dies bedeutet immer auch Kosten, die von den Rundfunkanstalten getragen werden müssen. Für eine gleichberechtigte mediale Teilhabe sind diese Angebote jedoch unabdingbar.
Inklusive Mediengestaltung mit unterstützenden Technologien
Gerade die Möglichkeit, mit Hilfe von unterstützenden Technologien die in der Medienpädagogik eingesetzte Technik (zum Beispiel Computer und Kameras) zu adaptieren und Zugänge zu schaffen, ist sehr bedeutend für eine inklusive Mediengestaltung. Daher stellt sich für die medienpädagogischen Fachkräfte der Zukunft die Aufgabe, die unterstützenden Technologien aus der alleinigen, funktionalen Verknüpfung mit Hilfsmitteln zu lösen und für sinnvolle pädagogische Anwendungskontexte zu öffnen. Wie lassen sich beispielsweise Techniken, die für Menschen mit einer motorischen Beeinträchtigung gedacht sind, in die Produktion eines Hörspiels integrieren?
Konkrete Aufgabenstellungen in dieser Hinsicht werden zum Beispiel gerade von Studierenden im Rahmen einer berufsbegleitenden Erzieherinnen- und Erzieherausbildung bearbeitet. An der Fachschule für Sozialpädagogik der Technischen Jugendfreizeit- und Bildungsgesellschaft (tjfbg) gGmbH werden inklusive, medienbezogene Lernarrangements auf ihre Praxistauglichkeit hin erprobt. Die Fachschülerinnen und Fachschüler müssen beispielsweise Computerarbeitsplätze so einrichten, dass Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen das Schnittprogramm „Audacity“ bedienen können. Hierfür konfigurieren sie unter anderem verschiedene Hilfsmittel. Dank dieser Hilfsmittel wird eine gemeinsame Hörspielproduktion von Menschen mit und ohne Behinderung erst möglich. Sie sind die Voraussetzung für ein solidarisches Erlebnis.
Fazit
Das Herstellen von eigenen Medien ist so etwas wie der Königsweg der Medienkompetenz – über den kreativen Ausdruck von Gefühlen, Träumen und Hoffnungen und die positive Reaktion eines Publikums lässt sich Selbstwirksamkeit erfahren, die schon immer mit nachhaltigen Lerneffekten verbunden war. Denn bei der produktiven Medienarbeit ist nicht nur der Erwerb von instrumentellen Fähigkeiten von Belang, es zählen vielmehr auch die gedankliche Auseinandersetzung und die Strukturierung von Inhalten. Medien selbst zu gestalten hilft dabei zu durchschauen, wie Medien von anderen gestaltet wurden. Diese kritische Komponente ist ein zentraler Baustein von Medienkompetenz, sie gehört in der Demokratie zum Grundhaushalt eines reflektierten Zeitgenossen.
Insofern entfaltet sich in einer inklusiven Medienpädagogik nicht einfach nur ein neues sonderpädagogisches, sondern vielmehr ein gesamtgesellschaftliches Konzept. Neben dem Abbau von Barrieren geht es immer auch um den Neubau von Möglichkeiten.
Eine inklusive Medienpädagogik schafft auf ihre ganz eigene Weise einen Möglichkeitsraum von Teilhabe; sie stiftet ein medienbezogenes Erlebnis von Vielfalt und Gemeinsamkeit.
Eine inklusive Medienpädagogik steht für ein kreatives und kritisches Leben mit Medien, sie braucht offene Menschen. Diese nehmen teil an einer lebendigen, beziehungsorientierten und interaktiven Praxis, in der die kulturellen Standards unserer Gesellschaft weiterentwickelt werden.
Anmerkungen
(1) Siehe dazu: http://publikationen.aktion-mensch.de/barrierefrei/Studie_Web_2.0 pdf (17.02.2012)
(2) Vgl. Ortfried Schäffter, Bürgerschaftliches Engagement als Kontext lebensbegleitenden Lernens in der Transformationsgesellschaft, Berlin 2007 (im Druck), S.1-13; oder auch Ortfried Schäffter, Weiterbildung in der Transformationsgesellschaft, Baltmannsweiler 2001
(3) Kritik am Hinterherlaufen äußerte beispielsweise der Soziologe Ulrich Beck in: Ulrich Beck u.a. (Hrsg.), Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt/Main 2007
(4) Bildungsmarkt e.V., Kultursensible Medienpädagogik, Berlin 2011 – unveröffentlichter Aufsatz zum gleichnamigen Berliner Fachgespräch vom 7.12.2011
(5) BITV 2.0, Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung, Neufassung vom 22. September 2011, (BGBL. I S.1843)
(6) Mehr Informationen unter www.section508.gov (17.02.2012)
(7) Vgl. seine Habilitationsschrift; Dieter Baacke, Kommunikation und Kompetenz, München 1973
Quelle
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: medienkompetent teilhaben! – Materialien für eine inklusive Medienpädagogik (2012) Herausgegeben von der Landesarbeitsgemeinschaft Lokale Medienarbeit NRW e. V. in Kooperation mit der Technischen Jugendfreizeit- und Bildungsgesellschaft (tjfbg) gGmbH