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Peter Schmidt, Schule und neue Medien
Vortrag auf dem Forum der Schulbuchverlage auf der Didakta/interschul am 5.3.99
Medien sind Pioniere der Veränderung
Der Einsatz von Medien im Schulunterricht war schon zu Beginn unseres Jahrhunderts nicht unumstritten. In einer Zeit, als Tafel, Kreide und Wandkarten bereits das gesamte Medienrepertoire im Unterricht ausmachten, war die Einführung des Tonfilmes bereits so etwas wie eine Revolution. In einem Flugblatt von 1929 wurde der Einsatz von Tonfilmen im Unterricht als Einseitigkeit, inhaltliche Verflachung und geistiger Mord gebrandmarkt. Es hat seine Zeit gedauert, bis erkannt wurde, welche neuen Potentiale das Medium Tonfilm in den Unterricht einzubringen vermochte. Befördert wurde die Entwicklung nicht zuletzt durch die Konkurrenz des außerschulischen Bereiches, der bereits vor Jahrzehnten Maßstäbe auch für die Schule setzte. Auch damals gab es Ausstattungsprobleme, denn Tonfilmprojektoren waren teuer und nicht alle Klassenzimmer hatten Stromanschluß und Verdunkelungsmöglichkeiten. Auch mußte der Umgang mit dem Projektionsgerät neu erlernt werden. Der Erwerb eines Filmvorführscheines war früher unablässige Voraussetzung für die Ausleihe von 16 mm Filmen. Schon seit Jahrzehnten wird seitens der Bildstellen darauf verzichtet. Grund: Inzwischen ist der Umgang mit dieser Technik einfach Allgemeingut geworden. Vor diesem Hintergrund war dann auch der Einzug der Tageslichtprojektoren und Photokopierer in die Schulen relativ unproblematisch.
Größere Diskussionen löste allerdings die Einführung der elektronischen Taschenrechner in den 70er Jahren aus, weil befürchtet wurde, Schüler würden das Rechnen verlernen. Ohne dieses Hilfsmittel ist heute selbst eine Abiturprüfung nicht mehr denkbar. Dies ist ein Indiz dafür, daß es immer weniger erforderlich ist, für komplexer werdende kognitive Routineprozesse und kompliziertere kognitive Aufgaben auf menschliche Informationsverarbeitung zurückzugreifen.
Die Informationsgesellschaft zieht mittlerweile mehr und mehr die unmittelbare, sofortige Nutzung von Informationstechniken dem komplizierten und langwierigen Prozeß der Qualifikation von Menschen mit anschließender Nutzung menschlicher Informationsverarbeitung vor (Haefner). Beispiele hierfür finden sich in vielerlei Bereichen des täglichen Lebens, angefangen von der elektronischen Fahrplan- und Telefonauskunft, bis hin zu elektronischen Ladenkassen, Steuer-, Versicherungs- und Rentenberechnung, Autopilot, oder CNC gesteuerten Produktionsmaschinen und Industrierobotern. In allen diesen Bereichen werden Routinen der Informationsverarbeitung automatisiert und bedürfen nicht länger traditioneller menschlicher Qualifikation zur Informationsverarbeitung.
Die oben genannten Beispiele machen deutlich, wie schnell und wie tiefgreifend sich Veränderungen im Medienbereich vollzogen haben. Gleichzeitig wissen wir alle, wie wenig sich im gleichen Zeitraum Grundstrukturen von Schule und Bildung verändert haben. Allen an Schule Beteiligten muß deshalb schnellstens klar werden, daß der Wandel zur Informationsgesellschaft eine andere Organisation des Bildungswesens erforderlich macht, als es noch in der Industriegesellschaft notwendig war. Wie Sie der Presse sicher entnommen haben, machten die Ministerinnen Schavan und Bulmahn in Ihren Eröffnungsreden zu dieser interschul/didacta am Montag vielversprechende Ankündigungen in diese Richtung. Beide unterstrichen in ungewöhnlicher Deutlichkeit ihre Auffassung von der Vorreiterrolle, die sie den Neuen Medien und ihrem Einfluß auf den Wandel von Schule und Unterricht beimessen.
Was unterscheidet denn nun die Neuen Medien von den konventionellen Medien ?
Konventionelle Medien sind lineare, analoge Medien, die sich auf den unterschiedlichsten Datenträgern befinden und deshalb gegebenenfalls auch unterschiedliche Hardware erfordern, um sie einzusetzen. Handelt es sich um Laufmedien, so haben sie einen definierten Anfang und ein eben solches Ende, lassen sich allenfalls anhalten, vor- oder zurückspulen.
Multimedia faßt - vordergründig betrachtet - lediglich unterschiedliche, prinzipiell bekannte Medienarten (Ton, Stehbild, Laufbild, etc.) auf einem Datenträger, etwa einer CD-ROM, zusammen. Dort liegen alle diesen Medienarten auf einem einzigen Datenträger und in einem gleichen, dem digitalen, Format vor. Aus diesem Grund erfordern sie auch nur eine einzige, gemeinschaftlich genutzte Hardware - den Computer.
Für sich genommen bedeutet das noch nicht mehr, als die Perfektionierung eines technischen Systems. Aus pädagogischer Sicht aber besteht der springende Punkt an den Neuen Medien in ihrer Nonlinearität und der Möglichkeit der hypertextuellen Verknüpfung verschiedenster Inhalte und Darstellungsformen. Definierte Anfänge und lineare Wege durch das mediale Angebot gibt es hier nicht. Eine multimediale CD-ROM unterbreitet - wenn sie gut gemacht ist - dem Nutzer ein großes inhaltliches Angebot, läßt ihm aber weitgehend freie Hand, in welcher Weise er auf dieses Angebot zugreifen möchte, welche Wege er gehen will und wo er seine Schwerpunkte setzt. Auf diese Weise lassen sich individuelle Wege des Lernens viel leichter verwirklichen, als mit analogen Medien.
Ein schönes und symptomatisches Beispiel ist für mich etwa die CD-ROM "Die Stadt im Mittelalter". Das Thema ist Bestandteil aller Lehrpläne der allgemeinbildenden Schulen in Baden-Württemberg. Im klassischen Unterricht wird das Thema meist so angegangen, daß mit der Klasse die Ursachen der Stadtentstehung geklärt, die politischen und demographischen Folgen beleuchtet und z.B. die Entstehung und Bedeutung des Zunftwesens untersucht werden. Eine logische und untadelige Unterrichtsstruktur, ohne Zweifel. Dennoch will manche Schülerin und mancher Schüler diesen Lernweg so gar nicht mitgehen, weil es nicht der eigene ist und, zunächst jedenfalls, keine Antworten auf Fragen gibt, die im Augenblick des Einstiegs in die Unterrichtseinheit vielleicht brennender interessieren. Für die einen mögen das Themen sein wie Folter, Henker, Bader oder Wehrwesen, andere interessieren sich für Kleidung und Speiseplan mittelalterlicher Stadtmenschen. Die CD-ROM bietet nun die Möglichkeit des multiperspektivischen Einstiegs in das Thema und offeriert jedem einen ihm gemäßen Zugang, über den dann auch Interesse für das Gesamtthema entsteht.
Prinzipiell lassen sich solche Vorgehensweisen natürlich auch mit anderen Arbeitsmethoden - etwa der klassischen Gruppenarbeit - praktizieren, sind dann aber ungleich zeit- und materialaufwendiger. Idealerweise bietet sich eine Kombination der CD-ROM mit diesem Arbeitsverfahren an.
Neue Medien schrecken ab!
Mit dem Vordringen der neuen digitalen Medien (ich verwende in der Folge der Einfachheit halber den Begriff "Multimedia") spielte und spielt sich derselbe Vorgang, wie in der Vergangenheit mit anderen Medien, erneut ab: Lehrerinnen und Lehrer fürchten die Konkurrenz dieser Medien, die in ihrer Wirkungsweise oft auch überschätzt werden. Nicht ohne Grund fürchten sie aber auch die Komplexität, die aufwendige Technik und das oft undidaktisierte Informationsangebot dieser Medien. Wie jede Neuerung und jede Übergangsphase macht diese Situation Angst und ruft - oft aus Unkenntnis - Widerstand hervor. Doch je mehr man darüber weiß, desto ideenreicher und konstruktiver kann man mit den neuen Techniken umgehen.
Unglückselige Wirkungen hatte die Einführung der neuen Medien und Techniken in Gestalt des ITG-Unterrichts - vor allem durch seine Anbindung an die naturwissenschaftlichen Fächer, was in vielen Kollegien zu einer Vertiefung der Kluft zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem geisteswissenschaftlichen Lager führte. Auch die Einrichtung spezieller Computerräume in den Schulen hatte zur Folge, daß die entsprechende Technik nur den "Eingeweihten" zur Verfügung stand und diese Räume in ihrer Isoliertheit manchen an das gescheiterte Experiment der Sprachlabors erinnerte. Bis heute ist auch die verbindliche Verankerung der neuen Medien in den Bildungsplänen gerade auch für die nicht-naturwissenschaftlichen Fächer noch nicht zufriedenstellend erfolgt. So war auch der Druck auf manche Unterrichtende bisher noch nicht groß genug, um bei ihnen eine intensivere Beschäftigung mit den neuen Medien zu bewirken.
Mit jedem Schuljahr, in dem im Unterricht auf den Einsatz neuer Medien verzichtet wurde, vergrößerte sich der Abstand zur technologischen Weiterentwicklung von Hard- und Software und erschwerte mancher Lehrerin und manchem Lehrer den nachträglichen Einstieg. Gleichzeitig wuchs auf Schülerseite die Kompetenz im Umgang mit den neuen Medien, was wiederum viele Unterrichtende in Panik versetzte. Zu diesen eher unterrichtsspezifischen Schwierigkeiten kam die zögerliche Ausstattung der Schulen mit entsprechender technischer Ausstattung aufgrund zäher politischer Entscheidungsprozesse und schwindsüchtiger öffentlicher Kassen.
Alles in allem haben und hatten die Neuen Medien in der Schule also einen schwierigen Start - auch wenn es zwischenzeitlich eine ganze Reihe respektabler Ansätze zu ihrer Integration in den Unterricht gibt und auch die technische Ausstattungsfrage zügiger gelöst wird! Immerhin hat Frau Schavan am Montag angekündigt, baden-württembergische Schülerinnen und Schüler mittelfristig mit einem Laptop ausrüsten zu wollen! Ich halte das für eine gute Idee, denn:
Neue Medien bieten neue Chancen
Ob der Computer als individuelles Förderinstrument eingesetzt wird oder im Sinne einer inneren Differenzierung des Unterrichts, ob vernetzt in einem Computerraum oder verstreut als Einzelgeräte in den Klassenzimmern oder der Bibliothek, immer läßt sich beobachten, daß die neue Technologie zu einer verstärkten Eigenaktivität der Schülerinnen und Schüler führt, daß eigenständiges Lernen in den Vordergrund tritt und soziales Lernen verstärkt erfolgen kann. Der amerikanische Bildungsforscher Seymour Papert vom Bostoner Massachusetts Institute of Technology hält der traditionellen Schule sein Konzept einer lustvollen, spielerischen, kreativen Schule entgegen - er schreibt:
"Die heutige Schule ist Ausdruck einer Gesellschaft, deren Methoden zur Weitergabe von Wissen unterentwickelt sind. Wir werden im nächsten Jahrhundert etwas haben, das zwar Schule genannt wird, aber es wird anders aussehen. Lehrpläne, wie wir sie kennen, werden abgeschafft, denn: sie ersticken Kreativität".
Papert gründet sein Lern- und Lebens-Konzept auf die Begabungen der Kinder - und auf die Fähigkeiten neuartiger multimedialer Lernprogramme. Kritiker werfen ihm einen undifferenzierten und technikgläubigen Ansatz vor. So provokant Paperts Thesen auch sein mögen, und so gewagt seine methodischen Vorschläge zur Umsetzung auch erscheinen, er hat im Grunde die Chancen von Multimedia für Schule und Bildung richtig erkannt:
- Multimedia unterstützt das Methodenlernen, also das Lernen von Lernen. Inhalte bleiben gewiß auch weiterhin wichtig, unterliegen aber einem immer schnelleren Wandel. Deshalb wird der Erwerb von Methoden der Erschließung von Information und des Aufbaus von Wissen immer bedeutender werden.
- Multimedia ermöglicht über Datennetze den raschen Zugriff auf neueste Zahlen, Daten und Fakten. Bezüge zum jeweiligen Lerngegenstand werden dadurch aktueller, dynamischer und wirklichkeitsnäher.
- Multimedia hilft Fächergrenzen zu überschreiten und kann zur Bearbeitung komplexer interdisziplinärer und multiperspektivischer Problemstellungen führen.
- Multimedia unterstützt individuelles und soziales Lernen in der Gruppe und ermöglicht die eigene Bestimmung von Lernmethode, Lerntempo und Lernweg. Der Umgang mit und die Entwicklung von heuristischen Verfahren können dabei trainiert werden.
- Multimedia fördert Authentizität der Lerngegenstände etwa durch Landesgrenzen überschreitende Kooperationen und Kontakte (z.B. email-Projekte, Transatlantisches Klassenzimmer). Das Internet macht sogar schulübergreifende Projekte bis hin zu nationalen und internationalen Kooperationen möglich (z.B. Projekt "Römerzeitung", Projekt "Kreuzzüge" des GZG Friedrichshafen).
Neue Medien erfordern eine neue Didaktik und Methodik
Werden neue Medien und neue Technologien lediglich - wie bisher die konventionellen Medien - vorwiegend additiv im Unterricht eingesetzt, kann das zwar im einen oder anderen Fall angebracht und sinnvoll sein. Dennoch werden die Neuen Medien durch eine solche Verwendung nicht annähernd in ihren Potentialen ausgereizt. Sie erfordern neue methodische und didaktische Ansätze, die es ermöglichen, daß von ihnen ein wirklicher Impuls für die Erneuerung von Lehren und Lernen ausgeht.
Die traditionelle Lehr-Lern Philosophie suggeriert und praktiziert eine Art Wissenstransport vom Lehrenden zum Lernenden. Das Lehr-Lern Geschehen wird vom Lehrer präzise geplant, systematisch durchgeführt und im Ergebnis kontrolliert. Der Lernende fungiert als Empfänger von Instruktion. Unterricht wird dann als erfolgreich bewertet, wenn der Lernende in der Lage ist, Wissen, das ihm auf diesem instruktiven Wege vermittelt wurde, zu reproduzieren. Jede Lehrerin und jeder Lehrer meiner Altersgruppe erinnert sich aus seiner eigenen Ausbildungszeit noch gut an die Überbetonung des Stellenwertes von Lernzieltaxonomien. Ein Unterrichtsentwurf fand nur dann Gnade vor den Augen des Fachleiters, wenn er eine akribische Operationalisierung verschiedenster Lernziele enthielt! Bis heute dient bei Unterrichtsbesuchen oft der geordnete Heftaufschrieb des Schülers und das darin enthaltene, säuberlich abgepinselte Tafelbild als Indiz für klar vermitteltes Wissen und entsprechenden Unterrichtserfolg. Häufig werden dann diese unterrichtlichen Versatzstücke in Klassenarbeiten - unabhängig von der jeweiligen Fragestellung - von den Schülern lediglich wiedergekäut.
Unbestritten - es gibt Lernsituationen, in denen ein solches Vorgehen nach wie vor gerechtfertigt ist. Erfolgt Lehren und Lernen aber nahezu ausschließlich in dieser Form, entsteht genau das, was viele Unterrichtende täglich erleben: Lernen erfolgt überwiegend rezeptiv, Motivation und Interesse der Lehrenden und Lernenden lassen nach. Es kommt, wie Heinz Mandl das ausdrückt, zu einer Ansammlung von "trägem Wissen", d.h. es wurde etwas zwar theoretisch gelernt, kann auch in einem gewissen zeitlichen Abstand reproduziert, in realen Situationen oder anderen Zusammenhängen aber oft nicht angewandt werden - und wird deshalb auch schnell wieder vergessen. Eine Problemorientierung des Lernprozesses erschöpft sich dann darin, daß der Lehrer Fragen stellt, deren Antworten er selbst längst kennt. Schüler meinen, dann erfolgreich "gelernt" zu haben, wenn sie in der Lage sind, diese Antworten zu reproduzieren. Der Spaß am Lernen bleibt dabei häufig auf der Strecke. Diese Tatsachen sind nicht neu und wurden z.T. schon durch die Theoretiker des entdeckenden Lernens, etwa Piaget, zu reformieren versucht.
Es wäre nun freilich ein Trugschluß, anzunehmen, Neue Medien und neue Technologien für sich genommen seien das Allheilmittel, die immer noch überwiegend instruktivistischen Lehr-Lern-Methoden zu reformieren. Dadurch aber, daß sie im traditionellen schulischen Umfeld nur schwer nutzbringend einsetzbar sind, bergen sie in sich die Möglichkeit, Entwicklungen in Gang zu setzen, die von der instruktivistischen Lehr-Lern-Praxis weg führen hin zu mehr konstruktivistischem Lehren und Lernen. Sie sind daher in gewissem Maße vielleicht auch geeignet, den alten, aber nicht veralteten Erkenntnissen Piagets zu neuer Bedeutung zu verhelfen. Dennoch - bei aller Medieneuphorie - darf nicht vergessen werden, daß auch die Neuen Medien nicht Selbstzweck, sondern nach wie vor und immer nur Mittel zum Zweck sind.
Dieser Zweck besteht für mich nicht nur in einer möglichen Verbesserung des Unterrichts. Ich verbinde damit mindestens in gleicher Weise die Hoffnung, daß sich durch sie Schule verändern muß und wird!
Neue Medien müssen und werden Schule verändern!
Daß bereits ein gewaltiger gesellschaftlicher Druck entstanden ist, zeigen die intensiven Bemühungen der Schulverwaltungen, Computer in die Schulen zu bringen, Schulen ans Internet anzubinden und Lehrerinnen und Lehrer entsprechend zu qualifizieren. Allein in Baden-Württemberg wurden und werden im Rahmen einer Multimedia-Offensive 50 Mio. DM aufgewendet. Diese Maßnahmen bedeuten einen wichtigen organisatorischen Schritt zu einer Veränderung von Lehren und Lernen. Allerdings wäre es falsch, zu glauben, daß sich allein dadurch Schule, Unterricht, Lehren und Lernen von selbst verändern würden.
Ebenso notwendig wie die technische Ausstattung ist in der Zukunft die Entwicklung problemorientierter Curricula, die zugunsten der Erarbeitung von Problemfeldern die Basis traditioneller Fächerstrukturen verlassen. Dazu gehört die Schaffung problemorientierter Lernumgebungen, die nicht nur das Lernergebnis, sondern verstärkt den Lernprozeß berücksichtigen. Diese Veränderungen müssen bis in die Schulorganisation und die schulische Raumstruktur hineinreichen. Schulen müssen sich auf den Weg hin zu einer lernenden Organisation begeben. Betroffene müssen dabei zu Beteiligten werden (Heinz Mandl).
Das gilt nicht nur für Schulleitungen, Kollegien und Schülerschaft, sondern bezieht ebenso die Eltern mit ein, die oft noch an den überkommenen Lernstrukturen ihrer eigenen Schulzeit orientiert sind. Sie stellen übrigens eine derjenigen Gruppen dar, die sich oft am vehementesten etwa gegen Methoden der Freiarbeit wenden, weil sie glauben, daß mit dieser Methode kaum direkt abfragbares Wissen erzeugt und folglich nichts gelernt werde. Auch viele Schülerinnen und Schüler zeigen noch immer, konditioniert durch Elternhaus und erlebten Schulbetrieb, ähnliche Verhaltens- und Einstellungmuster.
Wie Schule in Zukunft aussehen könnte, zeigen z.B. Versuche aus der niederländischen Tilburg Summer School. Hier wurde Unterricht nahezu ausschließlich unter konstruktivistischen Gesichtspunkten organisiert und in verstärktem Maß das Selbstlernen am Computer praktiziert. Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck hat in seinem Buch "Netzwerk Schule" u.a. diesen Schulversuch beschrieben und auch im Rahmen anderer Projekte festgestellt, daß Kinder am Computer aktiver sind, als im belehrenden Unterricht. Er entlarvt Frontalunterricht als zu 60 Prozent verschwendete Zeit, dessen Lerneffekt man auch mit 40 Prozent des herkömmlichen Zeitaufwands erzielen könne. Das mit Computerunterstützung Gelernte bleibe dann auch noch dreimal so lange im Kopf haften wie dasjenige, das Schule bisher gelehrt hat. Ich halte diese Quantifizierung für problematisch! Dennoch erscheint mir die Tendenz der Aussage nicht falsch.
Im Tilburger Pilotprojekt ging man sogar soweit, die Schüler donnerstags zu Hause zu lassen und den Unterricht per "homelearning" zu organisieren. Die Schüler sind per Computer und ISDN-Anschluß mit dem Lehrer in der Schule verbunden. Sie bewältigen mit selbstgewähltem Tempo, das nicht mehr am Klassendurchschnitt ausgerichtet werden muß, mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad und mit eigener Pausengestaltung all die Aufgaben, die auch zu Hause möglich und dort vielleicht sogar besser zu lösen sind: Üben, Lösen von Rechenaufgaben, Vokabellernen, Nachschauen, wie die Hauptstädte Südamerikas heißen und wieviel Junge ein Eichhörnchen wirft. Der Lehrer kann dabei auf jeden Schüler ganz individuell eingehen. Wem diese Vorstellung heute noch zu visionär erscheint, kann sich vielleicht eher mit der Vorstellung der Einrichtung von computerunterstützten Selbstlernzentren in unseren Schulen anfreunden. Das bedeutet allerdings, daß selbständiges Lernen bereits ab der 1. Klasse gefördert und praktiziert wird. Nicht nur Experimente wie das Tilburg-Projekt zeigen:
An den neuen Medien führt kein Weg mehr vorbei !
Es darf nicht darauf gewartet werden, daß Lösungskonzepte "von oben" angeboten werden, denn Patentrezepte für die Implementierung neuer Medien gibt es nicht und kann es vielleicht auch gar nicht geben. Kollegien müssen lernen, eigeninitiativ zu werden und sich von dem Argument verabschieden, daß die Rahmenbedingungen (noch) nicht stimmen. Eine solche Haltung bringt nichts in Gang und festigt nur den gegenwärtigen Zustand der Erstarrung.
Gewiß, es bedeutet eine große individuelle Kraftanstrengung, unter Bedingungen, wie sie gegenwärtig an Schulen herrschen (Stoffülle, Lehrplandruck, große Klassen, eingefahrene Kollegien, etc.) die eigene Motivation zu einem neuen Aufbruch zu finden. Aber jedes Engagement in dieser Richtung ist ein Anfang! "Jede und Jeder hat einen Einfluß größer als Null!"
Allen, die Anregungen für das eigene Tun suchen, sei an dieser Stelle der Videofilm "Die stille Revolution" empfohlen, der von der Bertelsmannstiftung finanziell gefördert wurde und z.B. bei der Landesbildstelle Württemberg ausgeliehen werden kann. Er zeigt am Beispiel des Durham Board of Education in Ontario/Kanada, wie Schulen und Kollegien dieses Schuldistrikts damit begonnen haben, im oben beschriebenen Sinne, Lehren, Lernen und Schule behutsam, aber äußerst effektiv zu verändern. Und die Neuen Medien spielen dabei eine nicht unbeträchtliche Rolle.
Der übergroße Ansturm auf die gegenwärtig stattfindenden Kurse zur Multimediaberater- oder Netzwerkbetreuerausbildung und andere Qualifizierungsangebote der staatlichen Lehrerfortbildung haben deutlich gemacht, daß es eine breite Bereitschaft innerhalb der Lehrerschaft gibt, sich auf dem Bereich der neuen Medien weiterzubilden. Dies ist ein positiver Anfang und wird auch jene mitreißen, die noch immer zögern, oder offen bekennen, sich auf die neuen Medien nicht mehr einlassen zu wollen. Schließlich muß aber auch von jedem Lehrer und jeder Lehrerin erwartet werden, selbst die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen aufzubringen, sofern Sie ihren Beruf und ihren Auftrag ernst nehmen. Bestimmt wird in Zukunft auch die Technik einfacher und wirklich für jeden problemlos bedienbar sein und damit das letzte argumentative Bollwerk gegen die neuen Medien geschleift. Informationstechnologische Innovationen können ein Motor werden für die Reform unseres Bildungssystems, das vorbereiten muß auf eine Gesellschaft, in der bis zum Jahr 2015 etwa die Hälfte der Erwerbstätigen in der Informationsverarbeitung arbeiten werden und ein immer größer werdender Anteil des Bruttosozialprodukts im Informationssektor erwirtschaftet werden wird.
Wir sind unterwegs in eine Welt,
- deren Kulturen, Nationen und Wirtschaftsräume immer stärker miteinander verknüpft und aufeinander angewiesen sein werden
- in der Medien und mediale Vermittlung eine immer größere Rolle spielen werden
- in der gewohnte Distanzen zwischen Arbeit, Lernen und Freizeit immer kleiner werden
- in der globale Entwicklung und individuelles Handeln immer stärker miteinander verwoben sein werden
- und die immer transparenter und zugleich komplexer werden wird.
Vor diesem Hintergrund bekommt Schule als hauptsächlicher Lernort schon jetzt verstärkt Konkurrenz durch andere Lern- und Bildungsinstitutionen. Lernen wird aber auch immer unabhängiger von speziellen, institutionalisierten Lernorten. Inzwischen existieren allein in Deutschland weit über 1000 Tele-Learning-Projekte deutscher Hochschulen. In den USA gibt es gegenwärtig schon ca. 1 Million Online-Studenten. 1998 nutzten ca. 50 Millionen Menschen weltweit das Internet. (Nach der neuesten GfK-Studie allein in Deutschland 8,4 Mio) Für das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erwartet man weltweit bereits 1 Milliarde Internet-Nutzer. Vor dem Hintergrund solcher Zahlen wurde auch politisch längst erkannt:
Informationsgesellschaft braucht Medienkompetenz !
Vor einem starken Jahr schon äußerte sich Bundespräsident Roman Herzog auf dem Berliner Bildungsforum in großer Deutlichkeit, als er sagte:
"Vor uns liegt eine offene Welt, mit großer Komplexität und neuer Freiheit, damit aber auch mit größerer Verantwortung für den Einzelnen. Es geht für unsere Kinder und Enkel darum, daß sie lernen, sich in dieser komplexeren Welt zurechtfinden zu können und nicht in einer Woge ungeordneter Fakten und Ereignisse untergehen."
In einer neuen Lernkultur der Informationsgesellschaft wird das Lernen gegenüber dem Lehren einen größeren Stellenwert erhalten müssen:
- die aktive, selbstgesteuerte Konstruktion wird die Instruktion in den Hintergrund drängen.
- Lernende müssen befähigt werden, aus ihrer passiven Rolle herauszufinden.
- Auf vielen Ebenen muß ein Paradigmenwechsel vollzogen werden!
Das "Meister-Lehrlings-Modell", in dem der Lernende dann "ausgelernt" hat, wenn er sich dem Wissensstand des Lehrenden angenähert hat, wird nicht mehr genügen. Dazu sind die Zyklen des Wissenszuwachses der Menschheit zu kurz und der Grad der Komplexität unserer Welt zu groß geworden. Gerade in der gegenwärtigen Phase des Vordringens der Neuen Medien auch in die Schulen zeigt sich, wie notwendig auch ein gelegentlicher Rollentausch zwischen Lehrenden und Lernenden ist. Viele Schüler sind derzeit mit ihrem Computerwissen ihren Lehrern weit überlegen. Das bereitet Lehrenden verständlicherweise Kopfzerbrechen. Wer sich aber darauf einlassen kann, sich als Unterrichtender auch einmal zurückzunehmen und in die Rolle des Lernenden zu schlüpfen, wird für sich ganz neue und überwiegend positive Erfahrungen machen.
Unter der Federführung der Landesbildstelle Württemberg laufen derzeit die Projekte "Video und Computer" sowie "Radio und Computer". An über 40 Schulen im Land wird experimentiert, wie sich traditionelle Medien mit moderner digitaler Technik vereinbaren lassen und welche neuen Möglichkeiten die digitale Verarbeitung von Bild und Ton bieten. In ganz vielen dieser Projekte haben wir die Beobachtung gemacht, daß in gewissen Bereichen ein Austausch der Schüler- und der Lehrerrolle stattfindet und zu überraschenden Ergebnissen führt: Schüler, die im traditionellen Unterricht wenig in Erscheinung treten, blühen auf und bringen sich mit ihren Spezialkenntnissen engagiert ein. Lehrer, die dem Geschehen anfänglich reserviert bis ablehnend gegenüberstanden, finden Gefallen an ihrer neuen Rolle, lassen sich von ihren Schülern helfen und sind vom Computer oft kaum noch wegzubringen. Sie haben entdeckt, daß diese Medien Anlässe für Neugierde, zum Entdecken, Stöbern und Experimentieren bieten und dazu beitragen können, daß Lehrerarbeit spannend ist und Spaß macht!
Neue Medien können, nach meiner Ansicht, bei der Veränderung traditioneller Lehr- und Lernstrukturen einen wertvollen Beitrag leisten. Sie sind in der Lage, Lernende in authentische Situationen zu versetzen, in denen sie selbst aktiv werden können. Das Erfassen von Problemstellungen, Hypothesenbildung und -überprüfung sowie die Erarbeitung möglicher Lösungswege werden sich zu dominierenden Lerntechniken herausbilden. Interaktive, multimediale Medien, Datenbankinformationen und weltweite Datennetze werden sich zum Hauptwerkzeug für Lernen entwickeln und erfordern beim Lernenden wie beim Lehrenden neue grundlegende Kompetenzen - vor allem Medienkompetenz.
Auch die revolutionäre Erfindung des Buchdrucks konnte letztlich ihre Wirkung nur dadurch entfalten, daß Menschen Lese- und Schreibkompetenz entwickelten - Techniken, die, zumindest in Mitteleuropa, vor der Erfindung des Buchdrucks von der Mehrzahl der Menschen nicht gebraucht und deshalb auch nicht beherrscht wurden. Diese Kompetenzen wurden letztlich nur dadurch entwickelt, daß von der Mehrzahl erkannt wurde, daß dadurch neue Möglichkeiten entstanden. Die Erfindung der digitalen Technik und in ihrer Folge die Erfindung von Multimedia ist diesem historischen Vorgang gleichzusetzen. Gesellschaftliche Wirkung können diese Techniken nur dadurch erlangen, daß Menschen Kompetenz im Umgang mit ihnen entwickeln und lernen, diese Medien eigenbestimmt zu nutzen.
Insofern bedeutet Medienkompetenz:
- aktives Sehen,
- effektives Nutzen
- und kreatives Gestalten von Medien.
Selbstverständlich ersetzt Medienkompetenz traditionelle Kompetenzen und Qualifikationen nicht, sie baut vielmehr auf ihnen auf, benötigt sie als Grundlage.
Die gesellschaftliche Aufgabe der kommenden Jahrzehnte wird darin bestehen, eine Spaltung der Gesellschaft in medienkompetente und nicht-medienkompetente Menschen zu bremsen oder zu verhindern. Schule und Ausbildung wächst hierbei in Zukunft eine wichtige neue Aufgabe zu, der sie sich nicht wird entziehen können, ohne ihren nach wie vor gültigen Anspruch der Vorbereitung auf das Leben aufzugeben.
Mit freundlicher Erlaubnis von Peter Schmidt, Landesbildstelle Württemberg