Mike Große-Loheide: Was heißt hier "Mediensucht"? (2008)

Was ist dran an der Debatte um „Mediensucht“, die gegenwärtig in der Öffentlichkeit, unter Pädagog/innen und Berater/innen, den Eltern und zwischen Jugendlichen geführt wird? Offensichtlich melden sich Personen zu Wort, die ihren eigenen Umgang mit Medien oder den anderer als desaströs empfinden. Rat und Hilfe suchend erscheinen sie in Beratungsstellen oder Onlineforen und erzeugen Mitgefühl, Aufsehen und Medienresonanz. Gerade hat der „Stern“ eine Artikelserie veröffentlicht, in der „Computerspiel“- oder „Onlinesucht“ (1) neben den „klassischen“ Suchtkrankheiten, also z.B. Alkoholismus oder Erkrankungen wie Essstörungen, aufgeführt wird. Auf welcher Grundlage geschieht dies?

Die American Psychiatric Association lehnte es im Sommer 2007 ab, „exzessive Nutzung von Internet- und Computerspielen als Sucht zu klassifizieren und in die für 2012 geplante Neuauflage des DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) aufzunehmen“. „Von Sucht könne man bei Computerspielen nicht sprechen“ (2) Das DSM legt Kriterien fest, deren gemeinsames Auftreten problematisches Verhalten klassifizieren soll. Die für Glücksspielsucht angewendeten Beschreibungen werden von einschlägigen Akteuren wie HSO e.V., Hilfe zur Selbsthilfe von Onlinesucht und entsprechenden Wissenschaftlern auf Computer-, Internet-, Chat- und andere Mediensüchte übertragen. Sie lauten:

  • Unstillbares Verlangen zu spielen, Chatten (Craving)
  • Dosissteigerung zur Erreichung eines befriedigenden Gefühls/Erregung und Kontrollverlust, nicht aufhören können
  • Auftreten von Stressgefühl, wenn keine Spielmöglichkeit besteht, Nervosität und Gereiztheit bei Abbruch
  • Rückzug aus anderen Bezügen in Familie und Freundschaften
  • Nachlassen der Arbeitskraft / Leistungsfähigkeit in anderen Bereichen, besonders in Schule, Beruf
  • Verheimlichung und Bagatellisierung der Tätigkeiten
  • Wiederholtes Scheitern bei dem Versuch, die Tätigkeit einzuschränken oder aufzugeben.

Wenn drei Kriterien erfüllt sind, wird von gefährdetem, bei vier von riskantem und darüber von chronischem Verhalten gesprochen.

Im Stern-Artikel wird auf eine – der wenigen und immer wieder zitierte – Studie der Berliner Charité von 2005 (3) Bezug genommen, bei der 323 Schüler/innen zwischen 11 und 14 Jahren befragt wurden. Diese Studie entdeckte 9 % „Exzessive Spieler“. Ihnen wurden in der Befragung neben anderen sieben Fragen zum Computergebrauch gestellt, die die Jugendlichen als Selbstbeobachtung beantworteten, und zwar als Lifetimeprävalenz, also auf das gesamte Leben bezogen:
Wie lange spielst Du am Computer? Wie oft in der Woche? Hast Du nach der Schule gespielt, um Ärger zu vergessen? Hast Du etwas Wichtiges vergessen während des Spielens oder schon einmal das Gefühl gehabt, zuviel gespielt zu haben? Hattest Du Streit mit Familie oder Freunden wegen des Spielens? Hast Du ans Spielen gedacht, wenn Du nicht vor dem PC warst, z.B. in der Schule?
Exzessiv-Spieler war, wer mehr als 19 von 28 Punkten erreichte. Ist das eine wirklich solide Grundlage?

Daneben stellen sich Betroffene zur Verfügung, die anonymisiert ihren Untergang preisgeben. Mich erinnern sie an das 11. Gebot „Zeig dich wie Du bist“, das der Soziologe Jo Reichertz auf dem letzten GMK-Forum beschrieb. In den Pressemeldungen präsentieren sie den „gefallenen“ Normalbürger, der die Vorstellung nährt, das könne jedem passieren, und fungieren sozusagen als „Avatar“ für den durchschnittlich interessierten oder besser gesagt, erregten Leser.

Der Versachlichung der Debatte dient das alles nicht. Zwar wird auch hier von der Tragik zwischen „Lust und Last“ berichtet. Aber über Verhaltensmotive und ihre Funktionen oder über Lebenswelten ist herzlich wenig zu vernehmen. Präventive Gedanken oder gar medienpädagogische Ansätze werden überhaupt nicht berücksichtigt.

Weite Teile der Gesellschaft haben sich offenkundig damit abgefunden, alle Verhaltensweisen auf den „Konsumleisten“ zu ziehen. Und so wird aus dem Umgang mit Medien Medienkonsum. Und Konsum beinhaltet Gier, unbändiges Verlangen, Kontrollverlust, Innenweltorientierung und bringt zerstörte Charaktere hervor. Das ist weder neu noch unbekannt, noch hilft es weiter. Es bedient vielmehr die Pathologisierung der Gesellschaft: Menschen werden zu konditionierten und in Teilen pathologisierten Zellenansammlungen, die sich vor infizierten Körpern und, um im Bild zu bleiben, vor Computerviren fürchten.

Lebensweltbezogene subjektive Aneignungsmuster, die sich auch in riskanten Lebensstilen ausdrücken und ihre persönlichen Grenzen erfahren und erfahren müssen, passen nicht in die konservativen, kulturpessimistischen Normierungsschächte.

Und wer hockt vor den Mattscheiben? Zarte, empfindsame Müttersöhne ohne Mütter, die ins „narzisstische Nichts“ (4) fliehen, wie der Kindertherapeut Wolfgang Bergmann vermutet? Verführt von den lichtdurchströmten Bilderwelten fesseln diese die Subjekte an den Rechner. Wie an digitalen Marionettenfäden verlieren sie die Macht über ihre Gefühle, und ihr Selbst verglüht in den internationalen Elektroströmen der Globalisierungsgewinner. Auf diesen Wegen werden hirnphysiologische „Autobahnen“ (5) in die jungen Hirne implantiert, warnt der Hirnforscher Gerald Hüther und sehnt sich nach Wald und Flur zurück, für die wirklich wahren Aufgaben von Jugendlichen. – Oder sind es doch die bildungsfernen Pisaverlierer zu Hause vor dem Spielerechner, die mit Migrationshintergrund, aber ohne Musikinstrument und Bücher dahinvegetieren und unwissend ihren eigenen Untergang zelebrieren, wie der Kriminologe Christian Pfeiffer uns anhand seines Zahlenuniversums (6) beweisen will, aggressive Monster, die abgestumpft durch gewalthaltige Computeranimationen in der realen Welt schon mal zulangen können?

Wen geht das alles noch etwas an? „Vorsicht Bildschirm!“ (7), warnt der Hirnforscher Manfred Spitzer – das Leben von Kindern und Jugendlichen ist bei Betätigen der Starttaste bedroht. Statt Verwahrlosung in den Medien zu beklagen, verwahrlosen die Medienrezipienten. Der Siegeszug der Warner und Retter ist unaufhaltsam angetreten, endlich Tacheles zu reden, die Eltern, Pädagog/innen und die Öffentlichkeit wach zu rütteln. Verbote werden gefordert und Ängste gesät: Schaut endlich hin, was eure Kinder tun, bevor es zu spät ist. Und sie ernten zumindest Aufmerksamkeit und Absatz für ihre Studien, Bücher und Thesen. Und der Staat soll etwas tun: Jugendschützen, Verbote durchsetzen und verschärfen, Ganztagsschulen einrichten. Die Devise lautet: Weg von den Geräten. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

Und die Medienpädagog/innen? Können sie nicht nachweisen, dass das alles so schlimm nicht ist? Sind sie Verharmloser und Ignoranten, Abhängige der interessierten Medien- und PC-Spieleindustrie? Es reicht in der Debatte offenkundig nicht, Medien als Teil der Lebenswelten zu sehen. Das Leben verläuft dummerweise nur begrenzt in messbaren Bahnen und setzt sich wiederholt Gefahren aus. Risiken sind schön, denn sie machen das Leben spannend und verschaffen Erfahrungen. Lernen verändert sich: Der stramme Bildungskanon wird enthierarchisiert, der Einzelne assoziiert sein gerade für notwendig gehaltenes Wissen. Das verläuft bisweilen ohne Kontrolle von außen, Selbststeuerung heißt die Devise, das Lernen erlernen. Die Grenzen vollziehen die Individuen in und für sich. Das macht den Computer so verheißungsvoll: überall dabei und doch nicht festgelegt sein. Bindungen sind vorläufig, äußerlich, technisch vermittelt, also nicht real sozial, vielleicht parasozial oder pseudosozial.

Wir, die Medienpädagog/innen, müssen nicht nachweisen, wie effizient und empirisch belegbar der Umgang mit Medien beim Lernen funktioniert. Plausible Erklärungen und Beschreibungen und besonders didaktisch-methodisch schlüssige Handlungsanleitungen tun es auch. Medien kompetent zu nutzen, Rahmungen und Regelungen für besondere Herausforderungen zu entwickeln, lauten unsere Aufgaben. Empathie, also „Verstehen“ (8) lernen, wie es der Kultursoziologe Gerhard Schulze nennt, als didaktisches Grundprinzip ist das passende Äquivalent zu Navigation, Kooperation und Teamfähigkeit. Kreative Lösungen im Alltag zu finden, Netzwerke zu gründen und dem Mainstream und den „Alarmagenten“ (9) – so nennt sie der Medienwissenschaftler Hans-Dieter Kübler − unsere Positionen entgegen zu setzen, lauten die zukünftigen Herausforderungen. Oder können wir gar mit unseren Entwürfen im Wind der entfachten Debatte segeln?

Wenn, wie so oft behauptet, der Umgang mit PC-Spielen oder auch andere mediale Aktivitäten so brisant ist, was wird zur Entschärfung getan? Jugendmedienschutz allein, d.h. der geregelte Zugang zu Medienprodukten, ist keine Antwort auf diese Fragen. Dieser dient höchstens der Abwehr selbst beschworener Gefahren. Er verachtet und unterschätzt die emotionalen, sozialen, professionellen, letztlich auch gesellschaftlichen Potenziale im Umgang mit Medien.

Medienwelten sind Teil der Identitätsbildung nicht nur von Jugendlichen. Sie wollen und sollen sich in den Medienwelten zurechtfinden. Sie sollen ihre Lust befriedigen können und auch eine Expertise entwickeln, mit der sie z.B. die Ziele und Aufgaben eines Spiels erreichen können. Daraus folgt zwangsläufig, dass von leidenschaftlichen Spielern ein hoher Zeitaufwand betrieben werden muss, da die komplexen Spielstrukturen dies verlangen und sie sich permanent neue Herausforderungen suchen werden. Hier ist der Gegensatz von Virtualität und Realität irgendwann aufgehoben, weil das Spiel Teil der Realität ist. Natürlich stellt sich hier die Frage, ob immer mehr auch immer besser ist. In diesen Zusammenhängen sollte eine Zuschreibung von Sucht aber möglichst vermieden werden. Sucht ist eine Krankheit, „intensiv“ oder „leidenschaftlich“ tun es auch.

Ein begleitendes Beobachten und Handeln von Erziehenden, Eltern, Lehrer/innen und Sozialarbeiter/innen ist absolut wünschenswert, mit dem Ziel einer Balance zwischen Schule, Familie, Freunden und Medien.

Die Persönlichkeitsentwicklung vollzieht sich zyklisch und in Schüben, bisweilen für Außenstehende nicht nachvollziehbar oder sichtbar. Dies kann beruhigen oder auch Besorgnis hervorrufen. Die Adoleszenz vollzieht sich, das wissen wir von den Hirnforschern, bis zum Ende des dritten Lebensjahrzehnts. Dazu gehören auch und vor allem die Regulierung der Emotionen und der Zugang zu eigenen Gefühlen. Die Frage ist, inwieweit die Gesellschaft und insbesondere die öffentliche Erziehung vor allem Kinder und Jugendliche auf solche Emotionsregulationen vorbereitet.

Genau hierin fände eine systematische Förderung von Medienkompetenz ihre Aufgabe. Im Sinne des Orientierung Gebens, des Ausschöpfens eigener Potenziale und des Vorbeugens von einseitigen Aktivitäten ist sie auch aus präventiver Sicht unverzichtbar. Diese Forderungen dienen nicht der Freisprechung von PC-Spiele-Herstellern zur Verbreitung jeglicher Software oder Entlassung aus ihrer Verantwortung. Im Gegenteil, sie stärken die Spieler/innen gegen Verführungen und Manipulationen.

Dass die gezielte Förderung bisher unterbleibt, ist unverständlich und kann als ein Versuch interpretiert werden, den Menschen unmündig und unkritisch zu belassen. Medienkompetenzförderung bleibt so Teil von Subkultur und führt ein Schattendasein. Sie findet eher in Werkstätten und auf Hinterhöfen statt, anstatt als zukunftsorientiertes Identitätsprojekt vorangetrieben zu werden. Auf geht´s also. Auf Trampelpfaden und im Dickicht ist es bisweilen viel spannender als in den Untergangskatakomben der Bedenkenträger und „Prediger“. Und hin und wieder erreichen wir Lichtungen und Vorsprünge und geben gern Auskunft übers Navigieren, Oszillieren und Fantasieren – inner- und außerhalb der Medienwelten. In der eingangs erwähnten Debatte sollten wir uns mit fundierten Beiträgen und medienpädagogischen Projekten behaupten, denn Prävention beruht auf dem Gedanken, zu „Handeln, bevor Sucht entsteht!“.

Anmerkungen

1 Stern Nr. 9/2008
2 heise online, 25.06.07
3 S. Grüsser-Sinopoli, u.a. (2005): Exzessive Computernutzung im Kindesalter - Ergebnisse einer psychometrischen Erhebung, ISFB, S. 1-25
4 Eppendorfer 10/2007, S. 3
5 Wolfgang Bergmnn, Gerald Hüther (2007): "Computersüchtig", S. 160
6 Neben den Vorträgen, die Herr Pfeifer hält ,vgl. z.B.:, Dirk Baier, Christian Pfeifer (2007), KfN Forschungberichte Nr. 100, "Gewalttätigkeit bei deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen, Hannover.
7 Manfred Spitzer: "Vorsicht Bildschirm!", Stuttgart 2005
8 Gerhard Schulze (2004): "Die beste aller Welten", Fischer Taschenbuchverlag, Franfurt/M.. S. 217 und S. 330 ff.
9 Hans-Dieter Kübler (2006): "Medienpädagogische Innenansichten medialer Bilderwelten", S. 119 in: Helga Theunert (Hg.): "Bilderwelten im Kopf", München, S. 117-136

Mit freundlicher Genehmigung des Authors