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Michael Kunczik, Feindbild Computerspiel (2007)
Kann das Spielen stark gewalthaltiger Computerspiele gewalttätiges Verhalten fördern, und wenn ja, wie?
Obwohl die Forschung zur Wirkung violenter Computerspiele noch keine gesicherten Befunde vorlegen kann, scheint es möglich die Befunde der Wirkungsforschung zum Thema Medien und Gewalt zu extrapolieren. Demnach dürften negative Effekte von Computerspielegewalt vor allem bei Kindern und Jugendlichen auftreten, die bereits eine hohe Aggressionsbereitschaft aufweisen.
Es handelt sich dabei vor allem um Menschen, die ein niedriges Selbstbewusstsein haben und aus einem ungünstigen sozialen Umfeld (Erziehungssituation) kommen. Diese Personen sind in aller Regel in gewaltfreie Milieus sozial schlecht integriert und eher in violente Subkulturen eingebunden. Kinder und Jugendliche aus sozial intakten Familien, in denen nicht gewalttätige Formen der Konfliktlösung vorherrschen, sind relativ ungefährdet. Allerdings gibt es immer wieder Einzelfälle, in denen Mediengewalt direkt "durchschlägt" und aggressives Verhalten stimuliert. Eine Prognose dieser Fälle ist allerdings ausgesprochen schwierig.
Das Wirkungspotential von Computerspielen unterscheidet sich vor allem in folgenden sieben Punkten von Film- und Fernsehgewalt:
- Der Rezipient von Mediengewalt ist nur passiver (evtl. abgelenkter) Zuschauer. Der Computerspieler übt eine aktive Rolle aus, die ständige Aufmerksamkeit erfordert.
- Bei Mediengewalt werden emotionale Reaktionen über die Identifikation mit Protagonisten bewirkt, beim Computerspiel bewirken die eigenen Leistungen die entsprechenden Reaktionen.
- Während Gewalt im Fernsehen höchstens stellvertretend belohnt wird (Belohnung des Fernsehhelden), erfolgt bei Spielegewalt eine direkte Belohnung des Spielenden (z.B. durch Zugang zu höheren Spiele-Levels usw.). Im Spiel hat Gewalt keine negativen Konsequenzen für den Aggressor, sondern ist ausschließlich mit positiven Effekten verbunden.
- Anders als dem Fernsehkonsumenten stehen dem Computerspieler meist nicht verschiedene Identifikationsfiguren (z.B. auch das Opfer) zur Wahl, sondern es wird eine Identifikation mit einer bestimmten, zumeist violenten Figur nahe gelegt. Bei vielen Spielen kann sich der Spieler eine Figur auswählen, was das Identifikationspotential verstärkt. Bedenklich erscheinen v.a. die so genannten "Ego-Shooter", bei denen der Spieler die Perspektive der violenten Spielfigur einnimmt (Identifikation mit dem Aggressor).
- Für den Spieler vollziehen sich verschiedene Komponenten des Modelllernens gleichzeitig (Beobachtung des Modells, Bestärkung, Ausführung des Verhaltens) was Lerneffekte fördern kann.
- Computerspiele ermöglichen es, ganze Sequenzen eines Tötungsaktes in einzelnen Schritten detailliert und wiederholt nachzuvollziehen und sozusagen zu "trainieren". Während Gewaltszenen im Fernsehen kurz sind und durch wechselnde Szenen unterbrochen werden, ist der Spieler eines violenten Computerspiels zumeist ununterbrochen in Gewalthandlungen involviert.
- Computerspiele werden in ihren Gewaltdarstellungen immer realistischer, was Lerneffekte fördern kann. Auch ist die Häufigkeit von violenten Akten meist erheblich höher als beim Fernsehen.
Zur Erklärung der Wirkungsmechanismen violenter Computerspiele werden v.a. Theorien herangezogen, die aus der Fernsehgewaltforschung bekannt sind. Auch die in Bezug auf Fernsehgewalt eindeutig widerlegte Katharsisthese (Gewaltkonsum führt zur Aggressivitätsreduktion) ist in der Computerspielforschung zu neuen Ehren gekommen. Die dazu vorliegenden Untersuchungen besitzen allerdings aus methodischen Gründen keine große Aussagekraft (Selbstangaben; ungeeignete Experimentaldesigns). Es gibt zwar Hinweise darauf, dass Computerspiele bewußt zum Aggressionsabbau gespielt werden, aber ein Eintreten des gewünschten Effekts ist keineswegs bewiesen, zumal Misserfolge im Spiel eine aggressive Stimmungslage möglicherweise noch verstärken.
Was die Habitualisierungsthese (Abstumpfung gegenüber Gewalt) betrifft, gehen auch in der Computerspielforschung die Vorstellungen über das Konzept der "Abstumpfung" weit auseinander. Dies zeigt sich in sehr unterschiedlichen Operationalisierungen. So wurden in einigen Untersuchungen v.a. physiologische Messwerte erhoben, deren Interpretation allerdings z.T. widersprüchlich ausfällt (ist eine geringere Herzfrequenz beim Betrachten realer Gewaltszenen nach dem Spielen eines Computerspiels ein Hinweis auf Abstumpfung oder auf emotionale Betroffenheit?).
In anderen Studien stehen Habitualisierungseffekte in Gestalt verringerter Empathie im Mittelpunkt. Es herrscht aber weitgehende Übereinstimmung darüber, dass violente Computerspiele keine Empathiereaktionen (z.B. Mitleid mit dem Opfer) nahe legen. Einige Autoren vermuten, dass die ständige Ausübung gerechtfertigter, belohnter, mit keinen sichtbaren negativen Konsequenzen verbundener Gewaltakte in Computerspielen eine Unempfindlichkeit gegenüber bestimmten Schlüsselreizen zur Folge hätten, die normalerweise einen Prozess moralischer Bewertung in Gang setzten. Dies könne dazu führen, dass moralische Implikationen bei der Wahl des Verhaltens ausgeblendet werden und es zu einer affektiven (Abstumpfen emotionaler Reaktionen) oder kognitiven (Glaube, dass Gewalt unvermeidlich sei) Desensibilisierung komme. Empirische Belege fehlen aber noch.
Wie bedeutsam ist der Einfluss von Computerspielen hier im Verhältnis zu anderen Faktoren, etwa anderen Medien oder dem sozialen Umfeld eines Menschen?
Wie bei der Wirkung gewalttätiger Fernsehinhalte ist auch bei violenten Computerspielen davon auszugehen, dass es eine Vielzahl von Faktoren gibt, die den Zusammenhang zwischen Medieninhalten und realem Gewaltverhalten beeinflussen. Dies sind zunächst Persönlichkeitsmerkmale. Zum Alter ist festzuhalten, dass Heranwachsende den höchsten Konsum von Computerspielen in einer Zeit aufweisen, die aufgrund biologischer und psychosozialer Veränderungen durch das höchste Maß aggressiver Reaktionen auf provozierende Situationen gekennzeichnet ist. Es ist daher anzunehmen, daß in dieser Phase die stärksten Effekte auftreten.
Die unterschiedliche Computerspielnutzung von Mädchen und Jungen legt nahe, auch bei der Wirkung violenter Computerspiele Differenzen zwischen den Geschlechtern anzunehmen. Allerdings stellte eine Forschungsübersicht keine signifikanten Alters- oder Geschlechtsunterschiede fest. Eine andere Studie fand, dass Frauen, die gegen Männer spielen, aggressivere Gedanken entwickeln, wohingegen Männer, die gegen Frauen spielen "friedlichere" Gedanken besitzen. Einige Befunde sprechen dafür, dass feindselige bzw. aggressive Persönlichkeitsmerkmale sowie ein niedriges Selbstwertgefühl negative Effekte von Spielegewalt begünstigen können. Allerdings ist die Frage der Kausalitätsrichtung dieses Zusammenhangs nicht endgültig geklärt.
Die Integration in ein intaktes soziales Umfeld, insbesondere ein Elternhaus, in dem der Spielekonsum reguliert wird, ist ein wichtiger Schutzfaktor vor negativen Auswirkungen violenter Computerspiele. In der Praxis scheinen Eltern hier allerdings wenig Engagement zu zeigen.
Auch situative Einflüsse spielen eine Rolle. So gibt es Hinweise darauf, daß der Zusammenhang zwischen violenten Computerspielen und violentem Verhalten dadurch zustande kommt, dass Computerspiele aggressive Kognitionen "primen", die im Falle von Provokation den Wunsch nach Rache steigern. Auch scheint der Wettbewerbsaspekt bedeutsam zu sein. Das Spiel gegen einen Computer scheint stärkere Aggressionen auszulösen als das Spiel gegen eine (anwesende) Person, deren Nähe ggf. soziale Normen aktiviert.
Wettbewerbsbedingungen (Publikum und Siegprämie) scheinen violentes Spielhandeln zu fördern, selbst wenn es keinen Einfluss auf den Spielausgang hat. Eine sehr kurze Spieldauer (10 min.) führt zu einer stärkeren Gewaltsteigerung als eine lange (75 min.). Möglicherweise fällt ein anfänglicher Erregungseffekt nach ausgedehntem Spiel z.B. durch Langeweile oder Ermüdung stark ab. Sollte dies zutreffen, dann könnten elterliche Bemühungen zur Begrenzung der Spielzeit ihrer Kinder kontraproduktiv sein. Die Forschungsbefunde reichen für medienpädagogische Ratschläge aber noch nicht aus.
Schließlich spielen inhaltliche Faktoren eine Rolle. Die Forschungen sind aber z.T. eher trivial. So wurde untersucht, ob gegen Menschen gerichtete Gewalt, bei der rotes Blut fließt andere Wirkungen zeigt als Gewalt gegen Aliens mit grünem Blut. Dabei konnten keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden. Die Frage bleibt offen, weshalb die Autoren nicht getestet haben, wie die Wirkung blauen Blutes sein könnte?
Die bislang existierenden Befunde zu möglichen Einflussfaktoren legen es nahe, in der Computerspiel- ähnlich wie in der Fernsehgewaltforschung Problemgruppen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Es geht um die Identifikation von "High-Risk Players". Gefährdet sind vor allem jüngere Kinder, die noch kein stabiles Wertesystem besitzen. Dies gilt auch für Kinder und Jugendliche mit exzessivem Computerspielekonsum (mehr als zwei Stunden täglich; extrem negative Reaktionen bei Spielzeitbeschränkungen), starker Präferenz für violente Spiele, geringer sozialer Problemlösungsfähigkeit und Problemen bei der Gefühlsregulierung (konstante Suche nach Stimulation oder Flucht vor Ängsten und depressiven Gefühlen in die Welt des Computerspiels), erhöhter Reizbarkeit und verringerter Frustrationstoleranz.
Gibt es andere problematische Wirkungen intensiven Computerspielens?
In diesem Kontext können im Grunde alle aus der Medien- und Gewaltforschung bekannten Thesen angeführt werden, insbesondere Suchtverhalten, was u.a. impliziert: Soziale Isolation, Unfähigkeit sich in andere Menschen einfühlen zu können (Empathie), verzerrtes Weltbild usw. Allerdings ist der Nachweis kausaler Beziehungen ausgesprochen schwierig.
Weiß die Wissenschaft genug über problematische Wirkungen von Computerspielen, um der Politik Handlungsempfehlungen geben zu können? Welche?
In der öffentlichen Diskussion tragen spektakuläre Gewalttaten zur Entstehung von Aufmerksamkeit für das Thema "Medien und Gewalt" bei. Sie erzeugen einen Bedarf nach schnellen, plausiblen Erklärungen, und Mediengewalt bietet sich als naheliegende, dem "Common Sense" entsprechende Ursache an. Mediengewalt und die Computerspiele werden dabei von Politikern gerne zum Sündenbock gestempelt, ohne Forschungsbefunde zur Kenntnis zu nehmen, die für erheblich differenziertere Zusammenhänge sprechen. Die Vorstellung von der unbedingten Gefährlichkeit von Mediengewalt wird zur kulturellen Selbstverständlichkeit.
Dass simplifizierende Vorstellungen von der Wirkung der Medien so weit verbreitet sind, liegt nicht zuletzt daran, dass jeder täglich Umgang mit den Medien hat und daher über eine eigene Beurteilungsgrundlage zu verfügen meint. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das in verschiedenen Studien festgestellte und von der Forschung als "Third-Person-Effect" ("Andere-Leute-Effekt") bezeichnete Phänomen, das sich die Überzeugung von der Gefährlichkeit der Medien nicht auf die eigene Person bezieht, sondern es lediglich "die anderen" sind, die als höchst gefährdet betrachtet werden.
Ereignisse wie das Massaker an der Columbine Highschool in Littleton (1999) oder der Amoklauf von Erfurt (2002) haben dazu beigetragen, dass neben den Auswirkungen violenter Film- und Fernsehinhalte mittlerweile auch die möglichen Gefahren gewalthaltiger Computerspiele verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt sind. Computerspiele stehen im von der Forschung noch nicht begründeten Verdacht, besonders starke negative Effekte hervorzurufen.
Für die Politik ist es angenehm, ein Feindbild aufzubauen, dem die Schuld für soziale Missstände zugeschoben werden kann. Damit kann vom Versagen der Politik abgelenkt werden. Die Hauptursache für Gewalt sind nicht die Medien (damit soll keine Verharmlosung erfolgen), sondern Mißstände in der Gesellschaft (Arbeitslosigkeit, Armut, mangelnde Integration usw.).
Michael Kunczik ist seit 1987 Professor am Institut für Publizistik der Universität Mainz. Er ist Mitglied des Beirats Medienerziehung und Medienforschung der Bertelsmann-Stiftung und des Editorial Advisory Board des Journal of International Communication.
Quelle
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