Busch, M., Demokratielernen braucht Medienbildung: Zur Notwendigkeit demokratiepädagogischer Medienbildung in Schule und Unterricht (2020)

Die Digitalisierung verändert in radikaler Weise, wie wir lernen, arbeiten und leben. Internet, digitale Datenverarbeitung und soziale Medien beeinflussen demokratische Diskurse und Entscheidungsprozesse. Sie eröffnen neue Beteiligungschancen und Freiheiten. Sie bergen aber auch die Gefahr, politische Meinungsbildung zu manipulieren, und stellen demokratische Gesellschaften in Fragen digitaler Selbstbestimmung, Datenschutz oder demokratischer Kontrolle vor neue Herausforderungen. In dem Maße, wie Politik, gesellschaftliches Zusammenleben und Alltagswelt in entscheidender Weise medial vermittelt und geprägt sind, hat auch Medienbildung für die Demokratie eine herausragende Bedeutung. Demokratielernen ist ohne Medienbildung nicht denkbar. Umgekehrt muss sich auch Medienbildung ihrer demokratiepädagogischen Implikationen bewusst sein, darf “digitale Bildung“ nicht auf technologische, anwendungsorientierte Kompetenzen reduziert werden.

Ein Trugschluss wäre es zu glauben, Kinder und Jugendliche seien als digital natives per se medienkompetent. Zwar sind in ihrem Alltag analoge und digitale Welt ganz selbstverständlich zu einem hybriden Erfahrungs- und Handlungsraum verschmolzen, doch zeigen Jugendstudien einen deutlichen Bedarf und den Wunsch der Heranwachsenden nach schulischer Medienbildung.

Bereits 56 % der Kinder im Alter von sechs bis 13 Jahren nutzen das Internet täglich oder mehrfach in der Woche (MPFS 2019, 19). Bei den Jugendlichen besitzt quasi jeder und jede ein Smartphone; fast zwei Drittel haben einen eigenen PC oder Laptop (MPFS 2020, 7). 89 % der Jugendlichen zwischen zwölf und 19 Jahren sind jeden Tag online und verbringen nach eigener Einschätzung im Durchschnitt täglich fast dreieinhalb Stunden im Internet (ebd., 24). Dabei stellt das Internet für sie auch das zentrale Medium dar, um sich über Politik zu informieren: 67 % der 14- bis 24-Jährigen beziehen ihr Wissen über das politische Geschehen aus Nachrichten-Apps und -seiten im Internet. Hinzu kommen als beliebte Informationsquellen Google (37 %), Youtube (32 %), Instagram (30 %) und Facebook (28 %) (Vodafone Stiftung 2019, 11). 79 % der Heranwachsenden sind gar der Meinung, sich im Internet besser über politische Themen informieren zu können als offline; zwei Drittel sehen das Internet und soziale Medien zugleich als bessere Möglichkeit, politisch aktiv zu werden und sich mit anderen zu organisieren (Vodafone Stiftung 2020, 13). Allerdings verzichtet eine Mehrheit der Jugendlichen darauf, diese Möglichkeit zum politischen Engagement zu nutzen. Während rund 40 % der 14- bis 24-Jährigen sich durch das Teilen oder Liken politischer Beiträge oder in privaten Messenger-Gruppen politisch äußern und rund 25 % angeben, sich bereits an Online-Petitionen beteiligt zu haben, erstellen nur 7 % eigene Beiträge oder Posts zu politischen Themen (ebd., 14f.).

Die Zurückhaltung erfolgt dabei durchaus begründet und geht mit einem Bewusstsein für die Gefahren und Ambivalenzen der digitalen Medien einher. So sind rund zwei Drittel der Jugendlichen der Meinung, das Internet sei durch eine “Beleidigungskultur“ geprägt, in der jeder, der sich online äußert, damit rechnen müsse, beleidigt und beschimpft zu werden (DIVSI 2018, 67). 38 % beteiligen sich explizit nicht an Online-Diskussionen, weil sie Beschimpfungen fürchten (ebd.). In der JIM-Studie gaben zwei Drittel der 13- bis 19-Jährigen an, im Monat vor der Befragung Hassbotschaften im Netz gelesen zu haben; weiteren 57 % begegneten im gleichen Zeitraum extreme politische Ansichten, 53 % Fake News und 47 % nahmen beleidigende Kommentare im Netz wahr (MPFS 2020, 51). Jeder fünfte Jugendliche gab zudem an, selbst schon einmal mit falschen oder beleidigenden Inhalten über die eigene Person konfrontiert worden zu sein; ein Drittel erlebte bereits Fälle von Cybermobbing im eigenen Umfeld (ebd., 49f.).

Schließlich zeigen internationale Vergleichsstudien, dass rund ein Drittel der Achtklässler*innen in Deutschland nur über rudimentäre oder basale computer- und informationsbezogene Kompetenzen verfügt und damit beispielsweise nicht in der Lage ist, Fake News zu erkennen oder Informationen im Internet kritisch zu hinterfragen (Eickelmann u.a. 2019, 127). Eine Ursache dafür könnte darin bestehen, dass Jugendliche nach eigener Einschätzung ihre Medienkompetenz zu großen Teilen nicht systematisch in der Schule, sondern autodidaktisch oder im Freundes- und Familienkreis erwerben. So gaben 2015 beispielsweise nur 10,6 % der befragten Achtklässler*innen an, in der Schule gelernt zu haben, wie sie im Internet nach Informationen recherchieren könnten (Deutsche Telekom Stiftung 2015, 6). 69 % der 14- bis 24-Jährigen fühlen sich entsprechend von der Schule nicht ausreichend auf die digitale Zukunft vorbereitet (DIVSI 2018, 98). Hinzu kommt, dass Schüler*innen aus sozioökonomisch schwachen und sog. bildungsfernen Familien – in Deutschland stärker als in anderen Ländern – deutlich schlechtere Kompetenzen aufweisen als Kinder aus privilegierteren Familien (Eickelmann u.a. 2019, 313). Diese sozialen Disparitäten weisen auf eine grundlegende Problematik, den sog. digital divide hin, mit dem Unterschiede in digitalen Kompetenzen, in Zugang und Nutzung digitaler Medien unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen in Abhängigkeit beispielswei-se von sozialer Herkunft, Geschlecht oder Alter markiert werden.

Vor diesem Hintergrund muss es Aufgabe von Schule und Unterricht sein, jene Fertigkeiten und Fähigkeiten zu fördern, die Lernenden eine gleichberechtigte Teilhabe an der durch Digitalisierung geprägten Gesellschaft ermöglichen. Gerade die allgemeinbildende Schule, die alle Kinder und Jugendlichen erreicht und zu Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Partizipation befähigen soll, steht in der Verantwortung, Heranwachsenden einen Schon- und Reflexionsraum für eine distanzierte Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit und Erprobung der eigenen Handlungsmöglichkeiten zu bieten. Die ambivalenten Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche in ihrem digitalisierten Alltag machen, und ihr eigenes Medienverhalten müssen von Lehrpersonen aufgegriffen und mit ihnen reflektiert werden, wollen sie nicht an der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen vorbei unterrichten. Techniken wie die kritische Bewertung von Online-Inhalten, der Schutz vor Doxing und Cybermobbing oder der Umgang mit privaten Daten müssen geübt werden.

Jugendliche sollten über grundlegende Kenntnisse beispielsweise zu Funktionsweisen von Algorithmen und Big Data oder Wissen über Datenschutz und Persönlichkeitsrechte verfügen, um digitalisierungsbezogene Entwicklungen und Erscheinungsformen in ihren Chancen und Risiken für Gesellschaft und das eigene Verhalten kritisch bewerten zu können. Neben dem Lernen über digitale Medien muss ihnen aber auch Gelegenheit gegeben werden, sich in der Gestaltung und Produktion mit Medien handlungsorientiert zu erproben. Das Entwickeln eigener Webseiten und Blogs, die Erstellung von Online-Petitionen oder Podcasts helfen dabei, jene Selbstwirksamkeit und Handlungskompetenzen zu entwickeln, die Lernende benötigen, um ihre Interessen und Positionen erfolgreich in demokratische Entscheidungsprozesse einzubringen. Eine so verstandene demokratiepädagogische Medienbildung stärkt Kinder und Jugendliche in ihrer Mündigkeit und Partizipationsfähigkeit für die digitale wie die analoge Welt.

Literatur:

DIVSI (Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet) 2018: DIVSI U25-Studie. Euphorie war gestern. Die “Generation Internet“ zwischen Glück und Abhängigkeit. Hamburg. URL: https://bit.ly/3jQTvhk"target="_blank" rel="noopener noreferrer"> https://bit.ly/3jQTvhk

Eickelmann, Birgit u.a. (Hrsg.) 2019: ICILS (International Computer and Information Literacy Study) 2018 Deutschland. Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich und Kompetenzen im Bereich Computational Thinking. Münster. URL: https://bit.ly/337ZuIF

MPFS (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest) 2020: JIM 2019. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Stuttgart. URL: https://bit.ly/39GIDOk

MPFS (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest) 2019: KIM 2018. Kindheit, Internet, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutschland. Stuttgart. URL: https://bit.ly/3f7ARxK

Deutsche Telekom-Stiftung 2015: Total digital? Wie Jugendliche Kompetenzen im Umgang mit neuen Technologien erwerben. Bonn. URL: https://bit.ly/2X2QNv0

Vodafone Stiftung Deutschlang (Hrsg.) 2019: Alles auf dem Schirm? Wie sich junge Menschen in Deutschland zu politischen Themen informieren. Düsseldorf.URL: https://bit.ly/30Ym5V4

Vodafone-Stiftung Deutschland (Hrsg.) 2020: Jugend will bewegen. Politische Beteiligung junger Menschen in Deutschland. Düsseldorf. URL: https://bit.ly/30SRkB9

Dr. Matthias Busch ist Professor für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der Universität Trier

Quelle: medien+bildung.com (Hrsg), Medienbildung und Demokratielernen - SCHULE mittendrin
Methoden und Lernszenarien für den Unterricht 2020, S.6 - 8
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Deutschland Lizenz