Dieter Baacke, Zum Konzept und zur Operationalisierung von Medienkompetenz (1998)

1. Zum Konzept von Medienkompetenz

Mit den "Neuen Medien" Internet und Computer, CD-ROM und Multimedia findet, gleichsam als Begleitung, der Begriff Medienkompetenz immer häufiger Verwendung. Er wird inzwischen als Schlüsselqualifikation (Deutscher Städtetag) betrachtet, die über Ausbildung, Schule und Hochschule die neuen Formen des Umgangs und Lernens über "Neue Medien" zum Thema hatte. Die Erweiterung der Programm-Medien durch Internet und Multimedia-Arrangements haben eine global erschlossene "Datenautobahn" zur Verfügung gestellt, in der vielfältige Inhalte und unterschiedliches Wissen zur Verfügung stehen, und dies nicht nur in den gewohnten Formen des Textes (Printmedien), sondern auch als Kombination von Zeichen: Eine CD-ROM verbindet beispielsweise Sprechen, Graphiken, Sound und Soundtracks in ganz neuen Kombinationsformen. Alltagsverrichtungen (Homebanking, Teleshopping), berufliches Handeln (ohne den Computer undenkbar), die Familie (als Verbindung von Unterhaltungs- und Bildungsmedien) bieten ein komplexes Netz von darstellbaren Weltbeständen an, die in dieser Fülle und Vielgestaltigkeit ihresgleichen bisher nicht hatten.

Auch mit diesen neuen Möglichkeiten der Informationsnutzung müssen wir umgehen können. Dies ergibt sich keineswegs allein, auch wenn Menschen grundsätzlich in der Lage sind, beispielsweise lesen, sprechen und schreiben zu können. Wir nennen dies eine grundlegende Kulturtechnik. Wir verfügen über sie, weil wir als Menschen "kommunikative Kompetenz" besitzen. Dies meint: Menschen sind nicht nur technisch in der Lage, etwa ein Druckbild zu entziffern; sie können sich auch etwas "dazu denken", und dies setzt wiederum Verstehensprozesse voraus. Genau dies meint Kompetenz: Es geht um mehr als nur die Fähigkeit, eine neue Technik (etwa den online-geschalteten Computer) handhaben zu können; verbunden ist diese technisch-praktische Fertigkeit mit dem Vermögen der Menschen, sich Gedanken über etwas zu machen, kritische Argumente zu formulieren, aber auch mit Hilfe von Lektüre Genußfähigkeit zu erlangen (etwa beim verstehenden Lesen eines lyrischen Gedichts).

Impliziert wird also mit dem Begriff Medienkompetenz dreierlei:

  1. "Kommunikative Kompetenz" ist die allgemeine Form, in der Menschen das soziale und gesellschaftliche Miteinander leben lernen und ausagieren, damit auf diese Weise "Wirklichkeit" über Kommunikationsakte erfolgt. Diese allgemeine "kommunikative Kompetenz" beginnt mit dem Erlernen der eigenen Sprache (Muttersprache) und endet noch lange nicht beim Programmieren einer Software mit multimedialen Gestaltungsmöglichkeiten als neuen Inhalten und Ausdrucksformen des Lernens.
  2. Diese "kommunikative Kompetenz" ist allen Menschen von Geburt an gegeben, sie gehört zur menschlichen Grundausstattung. Dennoch muß sie gelernt, geübt und weiterentwickelt werden; heute fördern wir "kommunikative Kompetenz", ausgehend von der Primärsozialisation in der Familie, über vielfältige Bildungseinrichtungen, hinzu kommen Alltagserfahrungen und selbstsozialisatorische Prozesse des Weiterlernens.
  3. Medienkompetenz ist insofern eine Teilmenge der "kommunikativen Kompetenz" und wendet sich insbesondere dem elektronisch-technischen Umgang mit Medien aller Art zu, die heute in komplexer Vielfalt zur Verfügung stehen und deren Nutzung ebenfalls gelernt, geübt und gefordert werden muß.

Abgesehen von diesen konzeptionellen Ausgangspunkten sind weitere drei Leitlinien festzuhalten:

  1. Medienkompetenz umfaßt, wie der Begriff auch nahelegt, alle Medien, von den Printmedien über Rundfunk und Fernsehen, Kassetten und Videorekorder, Telefon und Walkman bis zu den interaktiv und multimedial entwickelten Kommunikationsformen vom Computer (offline) und Internet (online). So heißt es auch im Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (1998, S. 13): "Medienkompetenz als fach- und institutionenübergreifende Basisqualifikation weist damit (...) über den Horizont klassischer medienpädagogischer bzw. medienerzieherischer Theorie und Praxis hinaus." Und etwas später (S. 15) wird formuliert: "Der Medienbegriff umfaßt Medien als Geräte und Techniken von Kommunikation, Medien als Systeme von Zeichen und Symbolen sowie Medien als Organisation. Dieses Medienverständnis wurde durch die Einbeziehung nicht-technischer Ausdrucksmedien (z.B. in spielerischen und theatralischen Formen) noch erweitert." In der medienpädagogischen Fachdiskussion hat sich entsprechend dieses breite Verständnis von Medien durchgesetzt.
  2. Medienkompetenz als so verstandene Basisqualifikation ist entsprechend ein Lern- und Erfahrungsgegenstand, der nicht ausschließlich über die Schule vermittelt wird, zumal die Lernenden (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) ihrerseits in vielerlei Formen quasi alltäglich mit Medien umgehen, so daß sie zum gesellschaftlichen Weltbestand gehören. Auch dies betont das Landesinstitut (ebd., S. 13): "Die Medienpädagogik hat zwar in der Schule immer schon mit medienerzieherischen Beiträgen auf die medialen Herausforderungen zu reagieren versucht, doch sind diese Bemühungen angesichts der Herausforderungen der Medien- und Informationsgesellschaft als völlig unzureichend zu bewerten, wenn sie nicht ergänzt und fortgeführt werden durch außerschulische und weiterbildende Maßnahme im Sinne lebenslangen Lernens. Die Vermittlung von Medienkompetenz muß mehr und mehr zu einem immer wichtigeren und notwendigeren Teil von Allgemeinbildung werden."
  3. Medienkompetenz ist damit eine Aufgabe lebenslangen Lernens, da die Kommunikationstechnologie sich ständig verändert, so daß immer neu gelernt werden muß, mit neuen Geräten und den in ihnen entwickelten Entwicklungsmöglichkeiten und Handlungschancen umzugehen.

Die Bedeutung von Medienpädagogik in einer "Informationsgesellschaft" ist auch bildungspolitisch erkannt. Hinzuweisen ist auf die Erklärung der Kultusministerkonferenz zu "Medienpädagogik in der Schule" (Mai 1995); den Beschluß der Kultusministerkonferenz "Neue Medien und Telekommunikation im Bildungswesen" (Februar 1997); den Orientierungsrahmen der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung "Medienerziehung in der Schule" (Dezember 1994). Notwendig ist nun eine Fortführung und Erweiterung dieser Diskussion, indem "Medienerziehung" wie im Orientierungsrahmen der Bund-Länder-Kommission um die didaktisch-pädagogische Gestaltung des umgreifenden Konzepts von Medienkompetenz erweitert werden muß. Die abschließenden "zusammenfassenden Empfehlungen" des Orientierungsrahmens, die weiterhin gelten, müssen, über die Programmatik hinaus nunmehr das Konzept Medienkompetenz in ihren Elementen entfalten und für Lehr-Lernprozesse im Sinne einer Basisqualifikation handhabbar machen.

2. Zur Operationalisierung von Medienkompetenz

Es wird vorgeschlagen, vier Dimensionen mit jeweils mehreren Unterdimensionen zu beachten, um Reichweite und Umfang des neuen Medienlernens deutlich zu machen:

  1. Dimension: Medienkritik "Krinein" bedeutet ursprünglich "unterscheiden" und zielt darauf, vorhandenes Wissen und Erfahrungen immer wieder reflektierend einzuholen, und dies in dreifacher Weise:
    1. Zum einen hat Medienkritik eine analytische Unterdimension. Problematische gesellschaftliche Prozesse, etwa Konzentrationsbewegungen, sollten angemessen erfaßt werden können. Ebenso sollte "analytisch" das Wissen vorhanden sein, daß sich private Programme weitgehend durch Werbung finanzieren und dies ohne Zweifel Konsequenzen für Programminhalte und Programmstrukturen hat. "Analytisch" bedeutet also, ein Hintergrundwissen zu besitzen, das Medienentwicklungen nicht kritiklos hinnimmt, sondern unterscheidend anwendet, um die eigene Medienkompetenz angemessen einsetzen zu können.
    2. Die reflexive Unterdimension zielt auf den Gedanken, daß jeder Mensch sein analytisches und sonstiges Wissen auf sich selbst und sein persönliches Handeln beziehen und anwenden können muß. Wir neigen gerade im Medienbereich schnell dazu, über "die anderen" zu reden und uns selbst außen vor zu lassen. Schon vor vielen Jahren beispielsweise verdeutlichten Untersuchungen, daß BILD-Zeitungleser - weil das Lesen der "BILD-Zeitung" keinen guten Ruf hatte - angaben, es "nur zum Spaß" oder nur "nebenbei" zu betreiben. Anderes Beispiel: In Seminaren über Serien in Vorabendprogrammen mußten die Dozenten erfahren, daß Studierende hier eine äußerst kritische Distanz an den Seminartag legten, obwohl sie die Sendungen "privat" und außerhalb ihres Studierauftrages mit Genuß und Interesse sahen.
    3. Analytische und reflexive Fähigkeit umfassen schließlich als dritte Unterdimension ethisches Betroffensein, das analytisches Denken und reflexiven Rückbezug als sozialverantwortet abstimmt und definiert.
  2. Dimension: Medienkunde Hier ist das "pure" Wissen über heutige Medien und Mediensysteme gemeint. Dies kann in zwei Unterdimensionen ausdifferenziert werden:
    1. Die informative Unterdimension umfaßt klassische Wissensbestände (etwa: Was ist ein duales Rundfunksystem? Wie arbeiten Journalisten? Welche Programmgenres gibt es? Nach welchen Grundsätzen wähle ich meine Programmvorlieben aus? Wie kann ich einen Computer für meine Zwecke effektiv nutzen?
    2. Die instrumentell-qualifikatorische Unterdimension meint ergänzend die Fähigkeit, die neuen Geräte auch bedienen zu können, dazu gehört etwa das Sich-Einarbeiten in die Handhabung einer Computer-Software, das Sich-Einloggen-Können in ein Netz, die Bedienung des Videorecorders und vieles mehr.
  3. Dimension: Mediennutzung Auch dieses kann in doppelter Weise ausdifferenziert werden:
    1. Es gibt eine rezeptiv-anwendende Unterdimension (Programm-Nutzungskompetenz). Auch Fernsehen ist eine Tätigkeit, weil das Gesehene verarbeitet werden muß und oft in das Bildungs- und Bilderrepertoire eingeht. Nicht nur das Lesen von Texten, auch das Sehen von Filmen fordert heute Rezeptionskompetenz.
    2. Hinzu kommt als zweite Unterdimension der Bereich des auffordernden Anbietens, des interaktiven Handelns: vom Telebanking bis zum Teleshopping oder zum Telediskurs; vom Fotografieren bis zum Erstellen eines Videofilms in der Gruppe gibt es heute eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten, nicht nur rezeptiv-wahrnehmend Welt zu erfahren, sondern auch interaktiv tätig zu sein.
  4. Dimension: Mediengestaltung Hiermit ist gemeint, daß Medien sich ständig verändern, dies aber nicht nur in technischer Hinsicht (die neuen Welten von Cyberspace), sondern auch inhaltlich, indem die Software die Möglichkeit bietet, neue Inhalte gestaltend einzubringen etc. Auch hier gibt es zwei Unterdimensionen:
    1. die innovative (Veränderungen, Weiterentwicklung des Mediensystems innerhalb der angelegten Logik) und
    2. die kreative (Betonung ästhetischer Varianten, das Über-die-Grenzen-der-Kommunikationsroutine-Gehen, neue Gestaltungs- und Thematisierungsdimensionen).
    Hier kommt auch der Gedanke der Partizipationskompetenz zum Tragen: Wollen wir die so vielfach ausdifferenzierte Medienkompetenz (Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung, Mediengestaltung) nicht subjektiv-individualistisch verkürzen, müßten wir ein Gestaltungsziel auf überindividueller, eher gesellschaftlicher Ebene anvisieren, nämlich den Diskurs der Informationsgesellschaft. Ein solcher Diskurs würde alle wirtschaftlichen, technischen, sozialen, kulturellen, ethischen und ästhetischen Probleme umfassen, um so die Medienkompetenz weiter zu entwickeln und integrativ auf das gesellschaftliche Leben zu beziehen.

Es gibt inzwischen keineswegs widersprechende, aber in der Nomenklatur und Gliederungsform anders geartete Vorschläge, Medienkompetenz genauer zu entfalten und somit einer Operationalisierung des Konzepts näherzukommen. Die hier vorgestellte "Nomenklatur" wird inzwischen in zwei Projekten (MeKoLa - "Medienkompetenz in der Lehrerausbildung"; "Medienkompetenz im digitalen Zeitalter") erprobt. Damit kann auch herausgefunden werden, ob die hier entwickelte Dimensionierung zweckmäßig ist, alle Lernaufgaben erfaßt und beschreiben läßt und insofern dann "festgeschrieben" werden kann. Angesichts der Neuheit des Konzepts, mit dem noch keine langfristigen Erfahrungen vorliegen, und angesichts der neuen Medienentwicklungen im Informationszeitalter muß möglicherweise mit einer weiteren Auseinanderfaltung des Konzepts gerechnet werden. Es geht also nach dem Stand der Dinge derzeit um einen Entwicklungsvorschlag, nicht jedoch schon um eine endgültige Festschreibung. Medienkompetenz wird nur dann angemessen auf einer Metaebene behandelt, wenn die kommunikativen Prozesse des Argumentierens, Erprobens, Neu-Gliederns, evtl. auch Bestätigens etc. für die Entfaltung dieses Begriffs genutzt werden.

Literatur:

Baacke, Dieter: Medienkompetenz. Tübingen, Niemeyer Verlag 1997

Bildungskommission NRW: Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft. Neuwied, Kriftel, Berpn 1995

Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung: Medienerziehung in der Schule - Orientierungsrahmen. Bonn 1995

Kultusministerkonferenz: Medienpädagogik in der Schule. Bonn 1995

Kultusministerkonferenz: Neue Medien und Telekommunikation im Bildungswesen. Bonn 1997

Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.): Evaluation der Weiterbildung. Gutachten. Soest/Bönen 1997

Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.): Jahrbuch des Landesinstituts 1997. Auf dem Weg zu einer integrierten Medienbildung. Beispiele und Beiträge aus dem Landesinstitut, Soest/Bönen 1997

Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.): Kompetent für/durch Medien. Impulse für die Weiterbildung. Soest 1998

Quelle

http://www.gmk-net.de
Mit freundlicher Genehmigung von Ippazio Fracasso-Baacke