Dieter Baacke, Medienkompetenz als Netzwerk und die Zukünfte der Erziehung (1999)

1. Ein Blick zurück

“Medienkompetenz“ ist derzeit in aller Munde: Nicht nur PädagogInnen, sondern auch AdministratorInnen, BildungsplanerInnen und ihre ZuarbeiterInnen sprechen immer öfter davon. Ein Begriff hat Konjunktur, der auf den ersten Blick alles andere als liebenswürdig erscheint, vielmehr abstrakt, damit abweisend; vieldeutig, darum schwierig. Wie kommt es zu solch einer Konjunktur? Man könnte auf “Zufall“ setzen, oder auf Machtkartelle, die mit einem Begriff bestimmte Ansichtsweisen und Interessen verbinden – oder, wir könnten auch ein wenig der “Logik der Sache“ vertrauen, sprich: es könnte sein, dass es einen vernünftigen Grund gibt, der diesem Begriff dazu verholfen hat, stärker bemerkt und angewendet zu werden – obwohl er schon lange existiert, freilich in komplexeren Zusammenhängen als heute meist diskutiert. Es lohnt sich also “einen Blick zurück“ zu werfen.

Der Begriff entstand in anderen begrifflichen Kontexten als heute wahrgenommen, und er entstand in einer gesellschaftspolitisch anderen Zeit: nämlich Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. Bis dahin hatte die pädagogische Auseinandersetzung mit den sogenannten “Massen-Medien“ eine lange Entwicklung hinter sich gebracht und war im Umbruch. Grob gesagt, waren PädagogInnen in der Regel vor allem an der Kontrolle von Medien interessiert: Sie galten als gefährdende Elemente im Sozialisationsprozess besonders von Kindern und Jugendlichen, so dass eine bewahrpädagogische Grundhaltung angemessen zu sein schien. Erst in den 60er Jahren, im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit dem immer wirkmächtigeren Fernsehen wurden Konzepte entwickelt, die den kritischen pädagogischen Impetus von seinen konservativen Folien befreiten und ihm eine Theorie zur Seite stellten. Im Gefolge der Frankfurter Kritischen Theorie entwickelte sich die ideologiekritische Pädagogik. Diese ist, theoriegeschichtlich gesehen, in zweierlei Hinsicht bedeutsam: indem sie theoretische Argumentationsstränge aufnahm und verarbeitete und sich zugleich anschloss an sozialwissenschaftliche Debatten. So befreite sie sich von dem Ruf geisteswissenschaftlich-konservativer Tradition in einem Winkel der pädagogischen Provinz. Es entstanden kritische Medientheorien (Baacke 1974), die die meist personenbezogen entwickelte Auseinandersetzung um die Medien durch gesellschaftliche Argumente erweiterte. Nicht nur die Industrialisierung von Kultur durch Medien, sondern auch die Tatsache, dass Konsument und Rezipient Handelnde innerhalb des gleichen gesellschaftlichen Gefüges sind, werden nun gedeutet als “Blockierungszusammenhang spätkapitalistisch kontrollierten Bewusstseins“. Die Undurchdringlichkeit der Erscheinung – was das Fernsehen sendet, gilt als gegeben und wirklich – wird als Ideologie “entlarvt“. Solche Argumente haben die Medienpädagogik ein Stück weit in die gesellschaftlichen Debatten hineingeführt. Seit Adorno ist ihre Kulturkritik nicht äußerliches Lamento über den Verfall bürgerlicher Werte, sondern sie wird nun als kritische Gesellschaftsanalyse geführt. Objektiv ist nicht, was gegeben ist – dieses bleibt Schein -, sondern was hinter den Ideologien (verstanden als falsche Erklärung objektiver Momente) einem hermeneutisch-kritischen Bewusstsein sich darstellt, als industrialisierter und von wenigen beherrschter Produktionszusammenhang. Diese neuen Medientheorien sind zugleich Gesellschaftstheorien, denn die Medien sind nichts als eine Besonderung kapitalistischer Produktion.

Solche Debatten, die inzwischen historisch anmuten (obwohl keineswegs in allen Punkten überholt, etwa in der Analyse der Kapitalisierung von Kommunikation!) haben der Medienpädagogik den Anschluss an die sozialwissenschaftliche Analyse ermöglicht. Die Ziel-Kriterien der Medienpädagogik waren nun formaler geworden und hefteten sich nicht mehr unbedingt an tradierte Werte. Wichtig war nun die “Emanzipation des Individuums“ aus “Bewusstseinszwängen“, die Förderung seiner “Selbstbestimmung“ und seiner “Partizipationschancen“.

Neben diesen theoretischen Anschlüssen gewann um die gleiche Jahrzehntwende der außerschulische Erziehungsbereich (Freizeitarbeit, Jugendarbeit, Bildungsarbeit, Jugendzentrumsbewegung, Kulturarbeit) zunehmend an Bedeutung. Denn hier waren Freiräume vorhanden, die Medien nicht nur zu Instrumenten organisierten Lernens machten, sondern sie den Jugendlichen als Ausdrucks- und Artikulationsinstrumente ihrer eigenen Interessenlagen zur Verfügung zu stellen. Es entstand eine handlungsorientierte Pädagogik, die an die Stelle des “Medienrezipienten“ die “Medien-Nutzer“ setzte. Medien-Nutzung ist doppelwertig, sie besteht nicht nur in der “Rezeption“ produzierter Botschaften, sondern auch in der “Produktion“ eigener Inhalte. Insbesondere mit Aufkommen des Videos versuchte die damit verbundene Videobewegung gegenüber der hochkomplex organisierten Öffentlichkeit der etablierten Massenmedien eine “alternative Öffentlichkeit“ aufzubauen, die sich in “basisbezogenen“ Produktionen stadtteilbezogen und kritisch gegenüber der herrschenden Meinung artikulierte. Unter der Prämisse der Handlungsorientierung war damit zusätzlich eine nicht nur abwehrende, bewahrende, sondern auch eine akzeptierende Einschätzung der Medien möglich geworden. Geprüft wird nun die gesamte Medien-Entwicklung unter der medienpädagogischen Leitfrage, inwieweit Medien Handlungsmöglichkeiten erschließen, ästhetische Erfahrungen erweitern und damit schon Kindern und Jugendlichen die Teilnahme an öffentlichen Diskursen und damit an politischem Denken und Handeln ermöglicht wird.

Es ist das zweite Mal in kurzen Schüben, dass die Medienpädagogik sich nun in grundlagentheoretische Debatten einschaltet. Leitbegriffe sind “Kompetenz“, “kommunikative Kompetenz“, “Lebenswelt“, “Alltag“, die Spannung zwischen “Konventionalität“ und “Intentionalität“ sowie vor allem “Handeln“, “Handlungskompetenz“ und eben “Medienkompetenz“. Woran liegt es nun, dass von allen diesen Begriffen, die durch ein theoretisches Netz von Bezügen aufeinander verweisen, derzeit vor allem “Medienkompetenz“ gefeiert wird? Die Antwort scheint mir einfach zu sein: Weil wir derzeit nicht die Probleme der alltäglichen “Kommunikation“ oder unseres “Handelns“ im Auge haben, sondern, obsessioniert durch eine künftige Cyberspace-Gesellschaft, Multimedia und weltweite Nachrichten-Vernetzungen, hier das eigentliche Problem sehen, mit dem wir umzugehen haben. Zum ersten Mal stehen ausschließlich die “Neuen Medien“ im Zentrum der Analyse von Kommunikationsprozessen, die ohne sie nicht mehr gedacht werden. Aber behutsam: die Ursprünge sind begrifflich komplexer und interessant, weil noch heute gültig.

2. Das Kompetenztheorem

Für die Behauptung einer "kommunikatven Kompetenz“ des Menschen hat sich die Pädagogik schnell interessiert, weil diese Arbeitshypothese von der Erziehbarkeit des Menschen ausgeht. Er ist aufgrund seiner Kompetenz zu sprachlichem Handeln fähig, aktiv an der Weltkonstruktion teilzunehmen. Verbunden mit der Erziehbarkeit/Bildbarkeit des Individuums ist die Verpflichtung, dies auch zu ermöglichen. Von Anfang an steckt also ein wichtiger Zielwert in dem Konzept, dessen Geltung heute überprüft werden müsste. Der Kompetenzbegriff kam um die 70iger Jahre herum in die Diskussion der Sozialwissenschaften. Intellektuell verbreitet wurde er durch die Auseinandersetzung zwischen Habermas, dem Interaktionstheoretiker und Luhmann, dem Systemtheoretiker. Habermas entwickelte sein interessantes, philosophiegeschichtlich gesättigtes Theorem, dass nicht nur “Arbeit“ eine Grundkategorie menschlicher Weltorientierung und der Aneignung und Gestaltung von Natur sei, sondern eben auch “Kommunikation“. Damit setzte er einen “idealistischen“ neben einen “materialistischen“ Begriff – ein Vorschlag, der auf den Unterbau der Materie fixierte Marxisten erbosen musste (1).

Auch der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1970) gehört übrigens in diesen Diskussionszusammenhang, denn er bezog sich, wie Habermas, auf Noam Chomskys Begrif und Konzept der “Kompetenz“. Bourdieu betonte freilich stärker die “generative Grammatik“ und verstand “Habitus“ als ein System von Mustern, die der Mensch verinnerlicht hat und die es ihm ermöglichen, variabel Wahrnehmungen, Gedanken und auch Handlungen eines kulturellen Raums zu erzeugen. In der generativen Grammatik sind alle Sätze virtuell beschlossen, die ein Mensch äußern und umsetzen kann, und im Habitus kommen sie gleichsam an die Oberfläche. Bourdieu meinte, durchaus marxistisch, dass der Habitus nicht frei verfüge, sondern je nach sozialer Klassen- und Schichtzugehörigkeit jene Deutungsmuster auswähle, die nach dem zugeteilten “Bildungskapital“ möglich seien. Die soziale Herkunft und die Schulbildung sind für Bourdieu also von großer Bedeutung, um einen variantenreichen Habitus auszubilden und damit die “Kompetenz“ des Menschen vollends zu entfalten. Er sah das kulturelle Kapital an kommunikativer Kompetenz auf verschiedene soziale Milieus und Klassen verteilt, und zwar ungleich.

Das pädagogische Konzept war insofern “idealistischer“, weil es die gesellschaftlichen Komponenten zwar sah, aber darunterliegende Grundausstattungen des Menschen postulierte. Die anthropologische Komponente war damit nach vorn gebracht. Der Kompetenzbegriff wurde von dem Linguisten Chomsky in Weiterführung von Gedanken Descartes und Humboldts verwendet für die von ihm angenommene, im Mentalen verankerte Fähigkeit des Menschen, aufgrund eines immanenten (nicht durch Reiz-Reaktion-Erlernen) Regelsystems eine potentiell unbegrenzte Anzahl von Sätzen zu erzeugen. Chomsky sieht eine wesentliche Eigenschaft der Sprache darin, dass sie die Mittel bereit hält, beliebig viele Gedanken auszudrücken und ermöglicht, entsprechend den beliebig vielen neuen Situationen adäquat zu reagieren. Chomsky denkt an eine “universelle Grammatik“, die den kreativen Aspekt der Sprachverwendung erfasst und profunde Regularien ausdrückt, die derart universell sind, dass sie in der Einzelgrammatik nicht aufgeführt und aufgespürt zu werden brauchen. Es wird also behauptet, dass alle Menschen potentiell über die Sprachmuster einer Universalsprache verfügen – und insofern gleich sind. An solche Überlegungen knüpfen sprachphilosophische Erwägungen an, wie sie (im Anschluss an den späten Wittgenstein) durch Apel und Habermas in die Diskussion eingeführt worden sind, setzt als transzendentale Grundlage des Sprachverstehens und der Sprachbeherrschung das transzendentale Sprachspiel einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft, weil sie prinzipiell imstande sein würde, den Sinn aller vorgetragenen Argumente adäquat zu verstehen und ihre Wahrheit definitiv zu beurteilen. Eine solch perfekte Diskursfähigkeit ist freilich nur dann denkbar, wenn Verzerrungen und Störungen der Kommunikation (wie Machtverhältnisse, Abhängigkeiten, größeres oder geringeres Rednergeschick etc.) ausgeschaltet werden können. Postuliert wird also ein normatives Ideal mit ethischen Bezügen. In Wirklichkeit gibt es natürlich diese ideale Kommunikationsgemeinschaft nicht, in der jeder zu Wort kommt und jeder jeden verstehen kann – aber sie bleibt (wie Habermas sagen würde) ein “kontrafaktisches Postulat oder eine hyperwirkliche Konstruktion“.

Was haben wir also gewonnen: Das Postulat, dass alle Menschen gleich zu behandeln seien, weil alle Menschen gleich seien. Es ist die “Kompetenz“, die den Menschen einerseits erziehungsbedürftig macht, aber auch erziehungsfähig. Unabhängig davon, welcher sozialen Klasse, welchem Geschlecht, welcher Rasse, welchem kulturellen Kontext ein Mensch seine Herkunft verdankt – er unterscheidet sich in Hinsicht auf seine kommunikative Grundausstattung nicht von anderen und muss entsprechend behandelt werden (2). Die Bedeutung für die Pädagogik ist also erheblich, und sie spiegelt auch hier den Zeitgeist der späten 60er Jahre wider: Die Integration unterschiedlicher Bildungsverläufe in den “Gesamtschulen“ etwa hatte das Ziel, die kommunikative Kompetenz von Kindern so weit wie möglich gleichlinig zum Zuge kommen zu lassen, also Unterscheidungen eher aufzuheben. Diese sind zwar empirisch gegeben und insofern auch zu beachten, aber doch nicht letztliches Zielelement pädagogischen Eingreifens. Gewendet auf medienpädagogische Begründungen, meint das Theorem: Jeder Mensch ist ein prinzipiell mündiger Rezipient, er ist aber zugleich als kommunikativ-kompetentes Lebewesen auch ein aktiver Mediennutzer, muss also in der Lage sein (und die technischen Instrumente müssen ihm dafür zur Verfügung gestellt werden!), sich über die Medien auszudrücken. Dies muss geübt und gelernt werden, aber wir können solche Prozesse mit der Zuversicht beginnen, dass sie auch zu einem sinnvollen Ziele führen. Freie Videogruppen oder (heute) Bürgerradios sind späte Ausläufer dieser theoretischen Debatten die so theoretisch also gar nicht sind! Wer dem Gedankengang bis hierher gefolgt ist, wird vielmehr einsehen, dass wir - eigentlich bis heute - einen argumentativen Grund gewonnen haben, auf dem sich auch pädagogisch stehen lässt.

3.Handlungskompetenz - Medienkompetenz

Die “kommunikative Kompetenz“, wie eben beschrieben, realisiert sich in der “Lebenswelt“ oder “Alltagswelt“ von Menschen. Die Lebenswelt ist die für einen Menschen oder eine Gruppe (etwa: Familie, Schulklasse, Arbeitskollegen) konstituierte reale Umwelt von Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten. Sie ist der Lebensraum, in dem sich Erziehung und Sozialisation abspielen. Er bestimmt damit alle Kommunikationen eines Menschen, umfasst und gestaltet sie. Die Struktur der Wiederholung von Handlungen führt zur Beschreibung von Lebenswelt als “Alltagswelt“, die eben die alltäglichen Lebensvollzüge von Menschen umfasst, ihre Routinen, ebenso wie außergewöhnliche Momente (Feste und Feiern). Jede Lebenswelt wird durch historische und gesellschaftliche Bedingungen bestimmt, die wiederum Hintergrund sind für die biographische Entwicklung und die Lerngeschichte von Kindern und damit ihre kommunikative Kompetenz. Bleibt diese regulierendes Prinzip, darf sich Forschung nicht begnügen, die unterschiedlichen kommunikativen Kompetenzen unterschiedlicher Gruppen festzustellen. Kompetenz überschreitet vielmehr die Möglichkeiten, die der Mensch jeweils für die Bewältigung seiner realen, vorgegebenen Lebenssituationen braucht. Würde man sich auf diese beschränken, liefe dies hinaus auf Einführung und Anpassung (3). Nun ist es sicherlich schwierig, eine von allen Menschen erreichbare und zu erreichende “kommunikative Norm“ festzulegen, auf die hin Sozialisationsprozesse ablaufen sollten, also erzogen werden muss. Es gibt eine ganze Reihe von Verhaltenskatalogen, etwa: die Fähigkeit zur Rollendistanz, zur Ambiguitätstoleranz, zur Ambivalenztoleranz, Fähigkeit zur Entscheidung und zu selbstverantwortlichem Handeln, Fähigkeit, seine Intentionen mit vorhandenen Kommunikationen abzustimmen, für die jeweils die entsprechenden kommunikativen Strategien entwickelt werden müssen. Das ist ein großes Programm, dessen Einlösung noch immer am Anfang steht.

Einstweilen ist deutlich: Menschen lernen kommunizieren, weil sie miteinander handeln müssen, und insofern sind “Kommunikation“ und “Handeln“ nur unterschiedliche Modalitäten eines Grundzustandes des In-der-Welt-Seins. So unterschiedliche Aggregatzustände “Worte“ und “Taten“ darstellen mögen, sie hängen doch zusammen, und insofern ist es beispielsweise keineswegs gleichgültig, welche Worte jemand wählt oder welche Taten jemand tut. Medienkompetenz ist, um mit Luhmann zu sprechen, eine systemische Ausdifferenzierung aus diesen Zusammenhängen. Daneben gibt es Berufskompetenz, vielleicht Familienkompetenz, demokratische Kompetenz, ästhetische Kompetenz. etc. “Medienkompetenz“ meint also grundlegend nichts anderes als die Fähigkeit, in der Welt in aktiv aneignender Weise auch alle Arten von Medien für das Kommunikations- und Handlungsrepertoire von Menschen einzusetzen.

Rekonstruieren wir (notwendigerweise knapp) diese Zusammenhänge, müssen wir uns nicht wundern, dass zum einen Medienpädagogik spätestens seit den 60er Jahren ihre Position im Geflecht der Sub-Disziplinen der Pädagogik behauptet, zum anderen auch stark nachgefragt wird. Denn gerade der kommunikationstechnologisch rasende soziale Wandel braucht ständig Personen, die mit neuen technischen Gegebenheiten “kompetent“ umgehen können. Während “kommunikative Kompetenz“ an die Alltäglichkeit gebunden ist, betont “Medienkompetenz“ in verstärkter Weise die Veränderung der Kommunikationsstrukturen durch technisch-industrielle Vorkehrungen und Erweiterungen – die ja beispielsweise auch dahin geführt haben (s.u.), dass von geschlossenen “Lebenswelten“ heute kaum noch die Rede ist, in denen sich “kommunikative Kompetenz“ alltagsgebunden und verlässlich entfalten kann. Die über Medien beeinflusste und beschleunigte ästhetische Wahrnehmung ist es, die heute auch in die alltäglichen Lebenslagen zurückstrahlt und sie nicht mehr zum Grundmuster von Kommunikationssituationen erklärt. Insofern erlaubt der Begriff Medienkompetenz, die derzeitigen Kommunikationsveränderungen pointiert und fokussiert aufzugreifen.

Freilich, der Begriff hat auch seine Schwächen. Die stärkste, vielleicht auch am leichtesten zu behebende, besteht darin, dass er weit und darum auch empirisch “leer“ bleibt. Wie “Medienkompetenz“ im einzelnen aussehen soll, welche Reichweite das Konzept hat, dies sagt der Begriff selbst nicht, und auch seine theoretischen Hintergründe malen dies nicht aus. Immerhin, hier könnte ich schnell eine Antwort geben: Zur Voraussetzung hat “Medienkompetenz“ heute Medien-Wirtschaftsförderung und Medien-Technikförderung. Wenn es so ist, dass die Informationsgesellschaft von heute zunehmend auf entsprechende Technologien (und deren Beherrschung) angewiesen ist, müssen diese technisch ermöglicht werden und wirtschaftlich stabil gemacht werden, bis zur Schaffung von Arbeitsplätzen.

Unter dieser Voraussetzung umfasst “Medienkompetenz“ zum einen Medienkritik und dies in dreifacher Weise: erstens sollten analytisch problematische gesellschaftliche Prozesse (z.B. Konzentrationsbewegungen) angemessen erfasst werden können; zweitens sollte jeder Mensch reflexiv in der Lage sein, das analytische Wissen auf sich selbst und sein Handeln anwenden zu können; und drittens schließlich gibt es die ethische Dimension, die analytisches Denken und reflexiven Rückbezug als sozial verantwortet abstimmt und definiert.

Neben die Medien-Kritik tritt sodann die Medien-Kunde, die das Wissen über heutige Mediensysteme umfasst. Die informative Dimension umfasst klassische Wissensbestände (wie: was ist ein duales Rundfunksystem, wie arbeiten Journalisten, welche Programmgenres gibt es, wie kann auch auswählen, wie kann ich einen Computer für meine Zwecke effektiv nutzen etc.). Die instrumentelle Dimension meint hingegen die Fähigkeit, die neuen Geräte auch bedienen zu können, also z.B. das Sich-Einarbeiten in die Handhabung einer Computer-Software, das sich Einloggen-Können in ein Netz, etc.

Medien-Kritik und Medien-Kunde umfassen die Dimension der Vermittlung. Die Dimension der Zielorentierung liegt im Handeln der Menschen. Auch dies können wir doppelt ausfalten: zum einen in die Medien-Nutzung; in doppelter Weise, nämlich rezeptiv, anwenden (Programm-Nutzungskompetenz); bzw. interaktiv, anbieten (auch antworten) können, vom Tele-Banking bis zum Tele-Shopping oder zum Tele-Diskurs. Der letzte Bereich ist schließlich der der Medien-Gestaltung: Sie ist zum einen zu verstehen als innovativ (Veränderungen, Weiterentwicklungen des Mediensystems) und als kreativ (ästhetische Varianten, das Über-die-Grenzen-der-Kommunikationsroutine-Gehen).

Wolle wir die so vierfach ausdifferenzierte Medienkompetenz (Medien-Kritik, Medien-Kunde, Medien-Nutzung, Medien-Gestaltung) nicht subjektiv-individualistisch verkürzen, müssen wir ein Gestaltungsziel auf überindividueller, eher gesellschaftlicher Ebene “anpeilen“, nämlich den Diskurs der Informationsgesellschaft. Ein solcher Diskurs würde alle wirtschaftlichen, technischen, sozialen, kulturellen und ästhetischen Probleme einbeziehen, um so die “Medienkompetenz“ auf dem laufenden zu halten.

Ein weiteres Manko des Begriffs “Medienkompetenz“ ist, dass er pädagogisch unspezifisch ist. Schließlich verdankt er sich nicht dem pädagogischen Diskurs, wie die Leitbegriffe “Erziehung“ oder “Bildung“. “Medienkompetenz“ gibt also nicht an, wie die eben beschriebene Dimensionierung des Konzepts praktisch, didaktisch oder methodisch zu organisieren und damit zu vermitteln sei. Freilich, auch die Begriffe “Medienerziehung“ oder “Medienbildung“ müssten ja aufgefüllt werden. Immerhin hat beispielsweise “Erziehung“ den Vorteil, dass der Begriff voraussetzt: pädagogisch kundige und damit verantwortliche, professionalisierte Personen streben mit ihren SchülerInnen/KlientInnen in ein methodisch geordneten Schritten ein bestimmtes, überprüfbares Ziel an. Wer dies aufgibt, darf nicht von “Erziehung“ reden. Welche Inhalte und welche Ziele freilich zu vermitteln seien, sagt auch “Erziehung“ nicht. Und der Begriff ist insofern auch zu eng, weil er ja nur intentional ausgerichtete Prozesse umfasst. Hier setzt der Vorteil von “Medien-Bildung“ ein, die darin bestünde, dass die Unverfügbarkeit des Subjekts sich nach seinen eigenen generativen Ausdrucksmustern entfaltet, ohne durchweg immer pädagogisch und in pädagogischem Raum angeleitet sein zu müssen (Die Jugendkulturen leisten dies beispielsweise außerhalb von Erziehungsprozessen, wenn vielleicht auch nicht unabhängig von ihnen!). Wie wäre es, wenn wir diese Dimensionen von “Erziehung“ und “Bildung“ in “Medienkompetenz“ hineindenken? Dies meint: wer von “Medienkompetenz“ redet, muss gleichzeitig davon reden, wie diese zu vermitteln sei und wo das Subjekt in seiner sich ausbildenden oder sich ausgebildet habenden Selbstverantwortlichkeit seinen kommunikativen Status bestimmt.

Ein letzter Mangel: Das “Kompetenz“-Kriterium kann leicht rationalistisch verengt missbraucht werden. Körperlichkeit des Menschen, Emotionalität werden zunächst nicht mitgedacht. Im Gegenteil, zunächst werden diese Dimensionen ausgeschaltet: Wer “kompetent“ handelt, wird immer als jemand gedacht, der in der Ernsthaftigkeit des Berufslebens, in politischer Verantwortung oder in fachlicher Forschung ernsten, außer ihm liegenden Zwecken nachgeht. Gibt es nicht aber auch eine Unterhaltungs-Kompetenz (als eines Teils von “Medien-Gestaltung“)? Gibt es nicht ganz selbstverständlich auch eine Kompetenz des Menschen, mit seinem Körper angemessen (oder eben nicht, dann muss hier “nachgeholfen“ werden!) umzugehen? Die männliche Verfügung über den “Kompetenz-Begriff“ machte diesen gerade dort schwach, wo vielleicht seine Zukünfte liegen könnten – und müssten.

4. Ein Blick nach vorn

Nach Alvin Tofflers futurologischer Theorie ist die Weltgeschichte in drei Wellen abgelaufen. Die Agrarwelle begann vor acht- bis zehntausend Jahren; es folgte die Industrialisierungswelle vor etwa 250 Jahren, und jetzt, nach dem zweiten Weltkrieg, haben wir die dritte und derzeit letzte Welle, die angetrieben wird durch die neue Energiequelle Wissen. Es ist die Informationsgesellschaft, die den Modus unseres In-der-Welt-Seins heute bestimmt. Nicht das Proletariat wie bei Marx, sondern das “Kognitariat“ (die Gruppe der Wissenden), ist heute bestimmend. Minutiös eingestellte Technologien bauen unsere Massendemokratie (und die Massenmedien) ab; es entsteht vielmehr ein Prozess der Entmassung mit Kommunikationsinhalten, die auf Gruppen, Individuen und bestimmte Kulturen zugeschnitten sind. Unterhaltung, Medien, Konsumartikel, ihr Verkauf, aber auch die Arbeitsbedingungen lassen einen entmassten Menschen entstehen, der nicht mehr in erster Linie vor dem Großen Bruder Staat Angst haben muss (so noch in Orwells Schreckvision “1984“), sondern vor der Privatwirtschaft, die über seine Kommunikations- und Eingabeprozesse seine Daten kontrolliert und weitergeben kann. Es ist die Welt des Cyberspace, die so den Titel eines Buches von A.O. Hirschman, den “American Dream“ wahrmacht. Telekommunikation Mikroelektronik, Computernetzwerke, Softwaresysteme und deren Anwendungen bestimmen die neuen Wachstumssektoren der Weltwirtschaft, so Hirschman in seiner "Magna Charta for the Knowledge Age“ (1994). Cyberspace sei der neue Wilde Westen: “Wir treten in ein neues Territorium ein, indem es bislang ebensowenig Regeln gibt, wie es im Jahre 1620 auf dem amerikanischen Kontinent oder auch im Jahr 1787 im nordwestlichen Territorium Regeln gab.“ (nach Bredekamp 1996). Freibeuter auf den Informationsmeeren sind heute die Hacker. Nicht mehr Besitz und Produktion, sondern die Teilhabe an den Flüssen der Information, das ist es, was heute gilt. Gnosis und Neuplatonismus werden neu entdeckt. So heißt es zu Beginn der “Magna Charta“: "Das zentrale Ereignis des zwanzigsten Jahrhunderts ist der Sturz der Materie.“ Der körperlose Geist eines postbiologischen Zeitalters schwebt über den Informationsmeeren. Nicht zuletzt solche Visionen haben den Begriff "Medienkompetenz“ Furore machen lassen. Wie glaubwürdig sind sie eigentlich?

Das ist schwer zu beurteilen. Zunächst: Nach einer “utopielosen“ Zeit ist es vielleicht gut, dass wir wieder futurologische Entwürfe haben, die uns faszinieren. Multimedia als Chance von Vernetzung und weltweiter (globaler) Interaktion, die zunehmende Loslösung jeder Information von ihrem Ursprungsort und ihr freies Zur-Verfügung-Stehen im Informationsmeer, das alles sind aufregende Vorstellungen. Wir sollten sie uns nicht vorschnell verbieten. Jedoch: Etwa 50 % der Weltbevölkerung haben noch nie ein Telefon in Händen gehalten, und 80 % haben noch nie einen Taschenrechner bedient. Nach einer neuen Studie von Diebold (Spiegel spezial, 3/96) wird nur jeder zehnte Haushalt sich in zehn Jahren für Video-On-Demand entschließen und bereit sein, durchschnittlich 20 DM pro Monat dafür auszugeben. In den USA sind derzeit 35 Millionen von 95 Millionen US-Haushalten im Besitz eines eigenen PCs. Von diesen wiederum sind es nur 25 %, die einen mit Modem ausgerüsteten PC haben und nur jeder siebente dieser Untergruppe nutzt das Netz ausgiebig (Spiegel spezial 3/96). Wir sollten also nicht übersehen, dass längst eine auf Medienkompetenz bezogene Ungleichheit besteht, global wie national. Sie hat ihren Ursprung in den mangelnden Förderungsvoraussetzungen von Medien-Wirtschaft und Medien-Technik sowie ihrer mangelnden Dissimilation unter den NutzerInnen, die unterschiedliche Interessen und “Kompetenzen“ haben, mit den neuen integrierten Computer-Multimedia-Arealen umzugehen, sich in ihnen heimisch fühlen zu können. Die imaginäre Freiheit des Cyberspace ist also empirisch sehr ungleich verteilt, und wird es bis auf weiteres bleiben. Auf dem G 7-Gipfel (Februar 1995) erzielten die Wirtschafts- und Postminister prinzipielle Einigkeit über sechs Voraussetzungen, dies zu ändern: Interoperabilität, Schutz der Privatsphäre, Schutz geistigen Eigentums, Zugang zu Netzen für alle, Zugang zu Forschung und Entwicklung, Zugang zu den Märkten.

Solche technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen sind tatsächlich wichtig. Sie sind zuallererst zu sichern. Aber dann kommt auch die Forderung der “Medienkompetenz“-Debatte ins Spiel, den Menschen mit den einzelnen Kompetenzen auszustatten, um sich in der Informationsgesellschaft behaupten zu können und nicht ziellos durch die Informationsmeere floaten zu müssen. Dazu gehören, beispielsweise:

  • eine Grundversorgung an Informationen (Grundrecht auf Telefon- und Datenanschluss, damit auch diejenigen dabeibleiben können, die weder Motiv noch Geld besitzen, um solche Anschlüsse aktiv zu betreiben; dazu gehört auch eine stabile Rundfunkversorgung im Rahmen eines dualen Systems, das neben privaten auch öffentlich-rechtliche Anbieter enthält),
  • Gemeinwohl und Persönlichkeitsschutz (digitale Informationen über Personen dürfen nicht beliebig kapitalisiert werden),
  • neue Formen politischer Kommunikation und einer neuen Kommunikationskultur (von Electronic-Citys, Bürgernetzen bis zur Medien-Literacy der neu aufwachsenden Generation).

“Medienkompetenz“ insistiert auf solchen sozialen und kulturellen Zielwerten und fordert deren Umsetzung im Schul- und Bildungswesen, aber auch in der Freizeit ein. Dies meine ich mit der Überschrift dieses Beitrags “Medienkompetenz als Netzwerk“: Wie unsere Computer zunehmend über Modems an Datennetze angeschlossen sein müssen, damit wir an der Informationsgesellschaft und ihren globalen Möglichkeiten teilhaben können, so muss “Medienkompetenz“ ein Netzwerk sein, das technisch-wirtschaftliche Voraussetzungen, Wissenselemente und Zielwerte miteinander verbindet. Der Begriff ist in aller Munde. Wird er richtig gebraucht, so erschließt er weite und fruchtbare Felder nicht nur des Diskurses, sondern auch des praktisch-medienpädagogischen Handelns. Ein Begriff hat Konjunktur – wir sollten die Chance ergreifen, diese Konjunktur zu nutzen.

5. Die Zukünfte der Erziehung

“Erziehung“ ist eine Grundtätigkeit des Menschen und bestimmt das Verhältnis der Generationen zueinander. Im einfachsten Sinn ist es doch so, dass die älteren Verantwortlichen (Eltern, Erzieher, Lehrer, Lehrmeister usf.) die jeweils jüngere Generation abgestuft derart in die Weltverhältnisse einführten, dass sie sich schließlich autonom, selbstbestimmt, aber auch sozial verantwortlich und kulturell interessiert in ihr bewegen kann. Dies bedeutet auch, “Erziehung“ schreibt nie nur fest, beteiligt sich an sozialem Wandel, und in “Erziehung“ steckt immer ein Absichtsbegriff. Wir wollen “zu etwas erziehen“ (Erziehungsziel) und in “Erziehung“ steckt auch immer ein Wirkungsbegriff: Oft setzen wir unsere guten Absichten ja nicht durch, dennoch können wir sagen, dass jedes erzieherische Handeln Wirkungen hat (nicht immer die erwünschten!).

Ein solch fundamentales Erziehungskonzept hat, wenn ich recht sehe, im Ganzen fast zwei Jahrtausende gehalten. Wenn wir heute von “Grenzen der Erziehung“ sprechen – manche fordern ja sogar ihre “Abschaffung“ -, so hat dies Gründe. Im Erziehungsbegriff steckt für moderne Menschen insofern ein Widerspruch weil “Erziehung“ ja immer voraussetzt, dass der Erziehende vorab festlegt, woraufhin erzogen werden soll und den zu Erziehenden dorthin führt. Seit der Aufklärung sind wir uns jedoch einig, dass ein demokratisches Staatswesen Bürger, die über sich selbst verfügen können, benötigt – während “Erziehung“ doch gerade Einordnung und Unterwerfung, wenn auch nur für eine bestimmte Zeit, fordert. Das Programm einer “antiautoritären Erziehung“ (nur in einer historisch begrenzten Phase, etwa zwischen 1968 und 1970 wirksam vertreten) hatte das Ziel, Kinder außerhalb der Familie und außerhalb der traditionellen Einrichtung Kindergarten mit nicht-repressiven Methoden zu erziehen. Antiautoritäre Erziehung verstand sich als praktische Gegenbewegung gegen ein erstarrtes und in eine innere Krise geratenes Erziehungssystem, das sozialen Wandel (Gleichberechtigung der Jugendlichen, Gleichberechtigung der Mädchen etc.) nicht hinreichend in sich aufnahm. Die “AntipädagogInnen“ haben dann vorgeschlagen, auf “Erziehung“ ganz zu verzichten, weil es sich jeweils ja doch um ein Gewaltverhältnis handele, letztlich die Herrschaft des Stärkeren (der Erwachsene) über den Schwächeren (das Kind). “Erziehung“ ist theoretisch und praktisch ins Gerede gekommen.

Grenzen traditioneller Erziehung

Die Medien tragen zu dieser Entwicklung bei. Die Vermehrung der Programme über Kabel, Satelliten und Digitalisierung, die Vermehrung der Geräte, die neuen Möglichkeiten interaktiver Nutzung, all dies hat einen Kulturbereich aufgebaut, der sich – übrigens ebenso wie die Bereiche Konsum, Urlaub, Freizeit, Unterhaltung – weitgehend außerhalb pädagogischer Einrichtungen etabliert hat. TV-Gerät, Walkman, Videorecorder, Camcorder, Transistorradio, Kassettendeck, Plattenspieler, CD-Player, Fotoapparat, Diaprojektor, Polaroidkamera, Zeitschriften und Bücher, der Computer, die Gameboy-Konsole, Disketten, Programme - dies alles hat eine Welt konstituiert, die von traditionellen Vorstellungen von “Erziehung“ gar nicht mehr erreicht wird. Dies ist nicht nur deshalb so, weil die pädagogische Profession sich weitgehend abstinent verhält (PädagogInnen sind kulturkritische Medienabwehrer, jedenfalls in der Mehrzahl), sondern auch deshalb, weil die Verbindung von diskursiver Schrift und diskursivem Sprechen mit unbewegten und bewegten Bildern, Graphiken, Tönen, Soundtracks neue Wahrnehmungsformationen erzeugt, die der Mehrzahl der Pädagogen fremd sind. Während die Kinder unbefangen auf dem “Daten-Highway“ surfen, stehen pädagogisch engagierte Erwachsene oft ängstlich beiseite und wissen gar nicht mehr, was los ist. Im Entstehen ist eine neue Welt allumfassender Partizipation, von der auch Kinder und Jugendliche nicht mehr ausgeschlossen werden können. Ob es sich um einen demokratischen Online-Dienst für lokale Abstimmungen handelt; ob es sich um multimediale, nach dem Prinzip des Edutainment gestaltete Lernprogramme schon für Vorschulkinder handelt; ob es sich um außerpädagogische Sonderwege und Heimlichkeiten des Jugendlichen (Gewalt, Pornographie, Träume und Phantasien) handeln mag – der Datenschirm überwölbt die Welt von Kindern und Jugendlichen, verändert ihre Weltwahrnehmung und auch die Lernaufgaben. In den neuen Medien-Welten gibt es keinen Vorrang des Erziehers oder der Erzieherin mehr, damit auch nicht der Erziehung. Erwachsene wie Kinder sind gleichzeitig Lernende und oft sind es die Jüngeren, die sich den neuen Wahrnehmungsweisen mit Neugier und nicht mit Abwehr stellen.

Bilderwelten und analoges Denken

Die Veränderungen der wahrnehmbaren Welt durch die neuen Medien will ich beispielhaft skizzieren und zeigen, dass heute nicht nur über Sprache, sondern auch über die Inszenierung von Bildern Sinn und Bedeutungen transportiert werden. Videoclips gehören zur Augenspeise vieler Kinder und Jugendlicher von heute. Das Video "Take a Bow“ erzählt, in Parallelmontage, zwei Stories: Eine Geschichte zeigt Madonna, wie sie in einem Zimmer dem Matador begegnet und mit ihm Liebe macht; parallel dazu, immer wieder eingeschnitten, sehen wir den Matador beim Stierkampf. Natürlich verweisen beide Sequenzen aufeinander, in dem sie Liebe und Gewalt aufeinander beziehen. Solche Deutungsleistungen am visuellen Material kann jedoch nicht jeder vollbringen. Eine Studie mit Collegestudenten hat beispielsweise gezeigt, dass nur filmerfahrene Studenten (solche, die viel Fernsehen sehen oder selbst Filme machen) die Beziehungsmontage – richtig deuteten: Eine Sequenz zeigt, wie eine Frau zum Shopping den Laden betrat; eingeschnitten waren Bilder, in denen sie in eine Kirche ging. Weniger audiovisuell Geschulte deuteten den Zusammenhang als narrative Sequenz: Für sie ging die Frau in einen Laden und (zwischendurch?) in eine Kirche.

Medienwelten sind Bilderwelten, wer weiß das nicht? Auch in ihnen muss man sich auskennen. Werbung, die sich an Jungen wendet, bietet schnelle Schnitte, wirkt aktiv, angespannt; Mädchen werden eher in Bildfügungen angsprochen, die “passiv“ wirken, gelassen, abwartend, die Sekunde wird hier nicht gezählt. Unterschwellig, daran besteht kein Zweifel, werden auf diese Weise Signale für Männlichkeit (highspeed) und Weiblichkeit (slowliness) eingeübt. Denken wir auch an die Aufnahmen von Politikern, die, im Kamerawinkel von oben den Politiker “klein“ erscheinen lassen, während er von unten aufgenommen, statuatisch-eindrucksvoll wirkt.

Susanne Langer, eine Schülerin Paul Cassierers, hat diskursive von präsentativen Symbolen unterschieden und versteht unter letzteren die Sprache der Bilder, die analog verstanden werden will, und zwar über das Gefühl, über die Ganzheitlichkeit von Sehen (und natürlich auch Hören). In den USA spricht man längst von einem “New Age of Visual Thinking“ und macht darauf aufmerksam, dass die Fähigkeit zu “More Analogical Thinking“ geübt werden müsse. Der Computer mit seiner binären Logik scheint auf den ersten Blick solche Formen analoger Wahrnehmung zu verdrängen, ihnen zu widersprechen. Aber nur auf den ersten Blick. Wer auf der “Daten-Autobahn“ fährt und sich entweder über CD-ROM oder Online im Internet über einen Server Informationen besorgt, liest keinesfalls nur Texte; er kann Graphiken, Bildern stehender und bewegter Art begegnen und muss sie im Zusammenhang entziffern und deuten. "Schulen ans Netz – Verständigung weltweit“ heißt ein Programm, das in ganz Deutschland aufgelegt, besonders in Nordrhein-Westfalen (in enger Zusammenarbeit von Wirtschafts- und Schulministerium), betrieben wird. Da eröffnen sich nicht nur neue Materialien und Kontaktmöglichkeiten im Online-Austausch zwischen Schülern aus Köln und Detroit, sondern die Lernwege komplizieren sich entsprechend: Dem Text-Lernen aus dem Buch werden Wahrnehmungsmaterialien hinzugefügt, die das Entziffern-Können von analog aufgebauten Bildmaterialien, von analoger Beziehung zwischen Bild und Musik etc. zur Voraussetzung haben.

Vor wenigen Jahren sprachen wir noch von den “neuen Informations- und Kommunikations-Techniken“ (abgekürzt luK). Dieser Ausdruck bezog sich auf die Expansion der Programm-Medien (neue Verteilkanäle wie Kabel, Satellit, terrestrische Frequenzen) sowie auf die weiterräumige Organisation des Rundfunkangebots in “öffentlich-rechtlich“ und “privat“. Parallel dazu wurden Diskussionen um die Bedeutung des Computers geführt, der nicht nur im privaten Leben, sondern auch in der Arbeitswelt und in der öffentlichen Verwaltung zunehmend eine Rolle spielt. Die Wandlung der Kommunikationskultur wurde besprochen mit der bangen Frage, ob das Funktionieren lebensweltlicher Ganzheitlichkeit nun nicht endgültig zerstört sei angesichts der drohenden Informations-Überflutung einer offenen Informationsgesellschaft. Nun rufen wir, in Verlängerung und Fortsetzung dieser Debatten das “Multimedia-Zeitalter“ aus, in dem der Computer immer mehr zum zentralen Terminal aller aus- und eingehenden Informationen wird, öffentlich, betrieblich und privat. Bemerkenswert ist, dass die “Multimedia-Gesellschaft“ im Ganzen eher eine positive Vision darzustellen scheint. Wendungen wie die vom “Information Superhighway“ (Daten-Autobahn) greifen nicht nur das amerikanische Vorbild auf, sondern transportieren damit zugleich die Vorstellung komplexer Verkehrs-Vernetzungen (Internet). Kommunikation ist nicht nur technisch-innovativ, sondern sie wird auch zunehmend interaktiv gestaltet, wir kommen mit ungeahnter Geschwindigkeit zueinander. Die Daten-Autobahn ist für alle da. Wir müssen nur den “Daten-Führerschein“ erworben haben, um uns auf ihr bewegen zu können. Es sind eher die Erwachsenen, die sich hier verspäten – wie sollen sie also hier noch “erziehen“ können?

Erziehung als “Austausch von Kompetenzen“

Wenn es so ist, dass das Umgehen mit analogen Botschaften und das Deuten komplexer Informationsangebote ins Alltagsrepertoire von Kindern und Jugendlichen gehört, dann haben wir ein Phänomen, das wir als “retroaktive Sozialisation“ bezeichnen. Heute ist es tatsächlich nicht mehr so, dass die Jüngeren nur von den Älteren lernen, sondern umgekehrt: vieles lernen die Älteren auch von den Jüngeren. Denken wir an Freizeitstile, an die ganze Welt der Unterhaltung, des Urlaubs, auch an die Medien: hier sind es die Jungen, die Bescheid wissen. Erwachsene, auch Lehrer, sind dagegen häufig verunsichert und weichen den Wahrnehmungs-Innovationen eher aus. Jeder weiß, wie gerne Kinder fernsehen, wie schnell sie eine Tastatur (vom Gameboy bis zum Computer) durch Versuchs- und Irrtum-Verhalten beherrschen. Kinder und Jugendliche sind heute “Trendsetter“. Da heißt es also pädagogisch umdenken. Wir können als Erziehende Kinder nicht umfassend “kontrollieren“ (dies setzt Besserwissen und ein recht festgefügtes Weltbild voraus, das Teilhabe erst stufenweise zulässt). An diese Stelle tritt meines Erachtens eine neue Beziehungs-Formation, die ich “Austausch von Kompetenzen“ nenne. Englisch, höhere Mathematik, die Kochrezepte der Großmutter, Geheimnisse der Biologie – vieles wissen wir Älteren und bringen es den Jüngeren bei. Dies beginnt ja schon mit den traditionellen Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen und richtig sprechen können. Aber die Jüngeren bringen auch uns etwas bei; neue Tanzschritte ohne Tanzschule, die Welt der Pop- und Rockmusik, das Genre Horror- oder Actionfilm, die Spielzeugangebote der Kaufhäuser, angemessene Mode und Kleidung – es gibt ein riesiges Repertoire hoher kindlicher Kompetenz. Damit habe ich “Erziehung“ einen neuen Sinn gegeben; sie besteht nicht mehr in dem linearen Gefälle zwischen Erziehendem und zu Erziehendem, sondern in einer Kreisbewegung offener Kommunikation, in der wir unsere jeweiligen Kompetenzen freimütig und bereitwillig austauschen und insofern tatsächlich Herrschaft abgebaut oder doch eingeschränkt ist. Mit neuen Wahrnehmungsweisen umgehen, die neuen Kommunikationstechniken angemessen bedienen können, dies ist eine Lernaufgabe, die Kindern und Erwachsenen wie ihren Eltern und LehrerInnen in gleicher Weise gestellt ist.

Wir sehen, die Welt hat sich gewandelt und das pädagogische Verhältnis auch. Es gilt nicht mehr “mulier taceat in ecclesia“, es gilt auch nicht mehr “Kinder dürfen nur reden, wenn sich das Handtuch rührt“ (so noch bei uns zu Hause, als ich ein kleines Kind war), und es gilt auch nicht mehr “Lehrer fragen, Kinder antworten“. Wir leben in einer Informationsgesellschaft und dies meint pädagogisch: Wir sind angewiesen auf gegenseitigen Austausch auf der Grundlage gegenseitigen Sich-Anerkennens. Die alten und neuen Medien haben all dies mitbewirkt, und trotz aller Zweifel und Bedenken: PädagogInnen und Kinder haben die Chance zu einer neuen Gemeinsamkeit in einem Lernumfeld, das nicht mehr eine abgeschottete pädagogische Provinz darstellt, sondern zur kommunikativen Weltgestaltung auffordert.

Anmerkungen

Zur Vergegenwärtigung dieser Debatte nur ein pädagogischer Titel, der auch Literaturhinweise en masse enthält: Baacke 1980.

Nebenbei bemerkt handelt es sich hier nicht nur um ein Postulat, sondern auch um wissenschaftliche Diskurse, die es begründen. Wie z.B. lässt sich die Fähigkeit eines Säuglings, beim Älterwerden immer vollständigere Sätze zu kommunizieren, besser erklären, als mit der Annahme einer Sprachbegabung, die allen Menschen angeboren ist. Die Erklärung, sie lernten durch Reiz-Reaktions-Kreise derartige Fähigkeiten, ist ja unsinnig, weil ein Kind nur jeweils die Sätze sprechen könnte, die es vorher von anderen gehört und gelernt hat.

In der Arbeitshierarchie Niedrigstehende brauchen dann beispielsweise nur beschränkte Fähigkeiten, sich kommunikativ zu verhalten – soviel nämlich, wie sie zur Ausübung ihres mit beschränkter Verantwortung versehenen Berufes benötigen. Eine solche Reduktion von Lernchancen ist jedoch, auch nach dem Kompetenz-Theorem, das demokratietheoretisch leicht aufzuarbeiten ist, illegitim.

Literatur

Baacke, D.: Kommunikation und Kompetenz. Grundlegung einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. München 1980
Baacke, D.: Theorie der Medienpädagogik, in: R.Burkart/ W. Hömberg (Hg): Kommunikations-Theorien. Ein Textbuch zur Einführung. Wien 1992
Baacke, D.: Gesamtkonzept Medienkompetenz, in: agenda. Zeitschrift für Medien, Bildung, Kultur, März/April 1996, S. 12-14
Bourdieu, P.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/Main 1970 Bredekamp. H.: Cyberspace, ein Geisterreich, in: FAZ, Beilage Bilder und Zeiten, 3. Februar 1996, Nr. 29
Habermas, J.: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: J. Habermas/ N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Soziotechnologie, Frankfurt/Main 1971
Hirschmann, A.O.: Magna Charta for The Knowledge Age. 1994
Spiegel Spezial: Schicksal Computer. Die Multimedia-Zukunft März 1996

Prof. Dr. Dieter Baacke studierte in Göttingen, Wien und Marburg Germanistik, Latein, Theologie, Philosophie und Pädagogik, promovierte in Germanistik und habilitierte sich 1973 in Pädagogik/Erziehungswissenschaften. Seitdem lehrte er als Professor für außerschulische Pädagogik an der Universität Bielefeld mit den Schwerpunkten Medienpädagogik, Jugend- Erwachsenen- und Weiterbildung sowie Kulturpädagogik. Dieter Baacke ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu diesen Themen. Er war Vizepräsident des Deutschen Kinderhilfswerks und Vorsitzender der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK).

Quelle: LAG-Medienarbeit Berlin (Hrsg), MachMedia – Materialien zur Medienarbeit mit Kindern und Jugendlichen, Berlin 1999, S. 26 – 38