Bürgerbeteiligung im Online-Zeitalter - Digitale Werkzeuge zur Partizipation - Teil I

Der Begriff Bürgerbeteiligung ist heute in aller Munde, vor allem als Gegenmittel gegen Politikverdrossenheit. Christian Scholz hat für pb21.de einen Überblick über die derzeitigen Partizipationsangebote zusammengestellt. Sein Fazit: Bürger und Politik diskutieren im Netz immer noch separat voneinander.

Das klassische Werkzeug der Bürgerbeteiligung sind Bürgerbegehren oder Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene bzw. Volksbegehren oder Volksentscheide auf Landesebene. Der Vorteil dieser Verfahren ist, dass die Bürger damit eine bindende Entscheidung herbeiführen können. Der Nachteil ist allerdings, dass diese Verfahren recht aufwändig und formal sehr anspruchsvoll sind. Einfache Fehler können zum Abbruch des ganzen Verfahren führen.

Mit Bürgerentscheiden wird meist die Hoffnung verbunden, dass die Stimmberechtigten im Laufe des Verfahrens besser über das Thema informiert werden. Denn die von einer Entscheidung betroffenen Akteure werden in der Regel versuchen, ihre Argumente noch einmal öffentlich und nachvollziehbar zu erklären. Als Beispiel für die erfolgreiche Anwendung wird gerne die Schweiz genannt, die Volksentscheide regelmäßig auch auf Bundesebene durchführt.

Doch im Rahmen von Bürgerbegehren werden politische Entscheidungswege insgesamt nicht notwendigerweise nachvollziehbarer – und die Bürger werden nicht automatisch besser informiert. Dabei ist mangelnde Information ein wichtiger Aspekt der Politikverdrossenheit.

Die aktuelle Diskussion dreht sich jedoch eher um rein konsultative Verfahren. Bei diesen geht es nicht darum, direkt eine Entscheidung vom Volk herbeiführen zu lassen. Bürger sollen vielmehr die Möglichkeit bekommen, eigene Vorschläge in den politischen Prozess einfließen zu lassen. Es geht also eher um den Diskussions- als den Entscheidungsprozess. Die Entscheidung bleibt normalerweise den jeweils demokratisch legitimierten Institutionen überlassen. Klassische Instrumente der konsultativen Bürgerbeteiligung sind Bürgerfragestunden, Bürgerforen (wie zum Beispiel in Aachen) oder Anhörungen.

Der Fokus der Diskussion über konsultative Verfahren liegt dabei zurzeit auf den Möglichkeiten des Internets. Die Frage ist: Wie kann Partizipation mit Hilfe von Online-Werkzeugen und entsprechenden Prozessen auf eine breitere Basis gesetzt werden? Online-Werkzeuge werden auch diskutiert wenn es um Entscheidungsprozesse geht – Liquid Democracy sei hier kurz als Schlagwort genannt – aber im Folgenden soll es zunächst nur um konsultative Werkzeuge gehen. Mit der Entscheidungsfindung mittels Liquid Democracy wird sich der zweite Text der pb21-Reihe zu Partizipationswerkzeugen befassen.

Projekt-Beispiele

Schauen wir uns also einige Online-Beteiligungsprojekte und die dort eingesetzten Methoden an.

Online-Petitionssystem des deutschen Bundestags

Hierbei handelt es sich um das Online-Pendant zu klassischen Petitionen, also Unterschriftenlisten zu einem bestimmten Anliegen. Auf der Online-Plattform des Bundestages kann ein Petent dazu einen Vorschlag oder eine Forderung einstellen, die nach formaler Prüfung freigeschaltet wird. Sie kann dann von jedermann/-frau gezeichnet werden. Zudem gibt es ein Diskussionsforum. Bei den Online-Petitionen des Bundestages kann der Vorschlagstext nach Freigabe nicht mehr geändert werden.

Dialog Internet des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Beim "Dialog Internet" dreht sich alles um die Herausforderungen, die im Zusammenhang mit der Internet-Nutzung durch Kinder und Jugendliche auftreten. Bei der Diskussion gibt es 3 Ebenen: einmal das durchführende Ministerium; dann die vom Ministerium eingeladenen Experten, die meistens offline miteinander diskutieren und schriftliche Stellungnahmen verfassen; sowie die interessierte Öffentlichkeit, die zu Beginn in einem Online-Forum Fragen beantworten und später Kurz-Statements der Experten kommentieren konnte. Zwischen Experten und Bürgern wurden dabei Zusammenfassungen der Diskussionen ausgetauscht, die vom Ministerium erstellt wurden bzw. von der Agentur, die das Projekt begleitet hat. Das Verfahren ist von Anbieterseite sehr stark strukturiert; die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung sind relativ begrenzt und von vorneherein vorgegeben.

Online-Beteiligungsplattform der Enquéte-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des deutschen Bundestags

Die Beteiligungsplattform der Enquete-Kommission ist verglichen mit Dialog Internet relativ flexibel gehalten. So können interessierte Bürger beliebige Vorschläge zu den einzelnen Projektgruppen einstellen und diskutieren sowie bewerten. Dieser Input wird dann meistens als Tischvorlage in die Sitzungen der Enquete gegeben. Begleitet wird diese Plattform durch Live-Streams der Plenumssitzungen sowie teilweise auch von den Projektsitzungen, soweit diese öffentlich tagen und Videozeit beim Bundestag bereitgestellt werden kann. Zum Teil konnten bei Expertenanhörungen auch Fragen an die Experten auf der Plattform hinterlassen werden. Das Projekt wird redaktionell vom Enquete-Sekretariat begleitet. So findet man auf der Plattform auch Berichte von Projektgruppensitzungen oder einen Überblick über aktuelle Diskussionen zu den relevanten Themen im Internet.

"Bürgerdialog Zukunftstechnologien" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung

Beim Bürgerdialog des BMBF setzt man außer auf Online-Beteiligungsmöglichkeiten auch auf Vor-Ort-Veranstaltungen, die über ganz Deutschland verteilt stattfinden. Es gibt auch hier, ähnlich wie beim Dialog Internet, drei beteiligte Gruppen: Bürger, Experten und das Ministerium, welches sich aber eher zurückhält. Die Experten haben in diesem Fall eher eine beratende Funktion für den Bürger anstatt selbst Stellungnahmen auszuarbeiten.

Während alle genannten Plattformen Bundesprojekte sind, gibt es natürlich auch Projekte auf Landes- oder Kommunalebene, zum Beispiel der Medienpass NRW oder die Bürgerhaushalte. Es gibt zahlreiche Projekte – und weitere sind auf allen Ebenen sind in Vorbereitung. Das Thema ist also sehr in Mode.

Instrumente der Bürgerbeteiligung

Was haben die derzeitigen Beteiligungsprojekte gemeinsam und worin unterscheiden sie sich?

Information

Im Mittelpunkt eines Beteiligungsprojekts sollte die Information des Bürgers über das Thema stehen, denn dies ist ja Grundvoraussetzung dafür, sinnvolle Vorschläge machen zu können. Allerdings wird dieses Element eher selten genutzt. Meist werden weder Gutachten oder Studien veröffentlicht, noch eine einfache Linkliste geführt. Dabei kann das Interesse an Information, selbst an Details, groß sein. Das haben zum Beispiel die Einschaltquoten bei der Schlichtung zu Stuttgart 21 gezeigt. Stuttgart 21 bleibt jedoch eine Ausnahme, selten spielt der Austausch von Informationen eine so große Rolle wie dort.

Vor-Ort-Veranstaltungen

Vor-Ort-Veranstaltungen, seien es die Arbeitsgruppen beim Dialog Internet, das Bürgerforum der Bertelsmann-Stiftung oder die Bürgerkonferenzen des Bürgerdialogs Zukunftstechnologien, sind meist nur einer ausgesuchten Besuchergruppe zugänglich. Diese werden entweder zufällig ausgesucht (Bürgerforum Bertelsmann-Stiftung), es wird eingeladen (Dialog Internet) oder man kann sich bewerben (Bürgerkonferenz Zukunftstechnologien). Ein Live-Stream oder Live-Transkriptionen, um die Ereignisse vor Ort auch online mitverfolgen zu können, sind dabei eher unüblich. Die Ergebnisse werden zudem meist nur als Ergebnisprotokoll in PDF-Form auf der jeweiligen Beteiligungsplattform veröffentlicht. Sie sind dann weder kommentierbar noch werden sie direkt in eine Web-Plattform eingepflegt, die es erlauben würde, die Ergebnisse im Zusammenhang mit den diskutierten Argumenten zu dokumentieren. Ein Nachverfolgen der Diskussion und der Argumente ist damit Außenstehenden nur schwer möglich. Veranstaltungen dieser Art sind in den meisten Fällen also in sich abgeschlossen.

Online-Portal

Im Online-Bereich können dagegen bei den genannten Projekten meist alle Bürger teilnehmen (ausgenommen dem Bürgerforum der Bertelsmann-Stiftung). Dabei gibt es viele Varianten in der Durchführung. So gibt es Verfahren mit mehreren Phasen (wie beim Bürgerhaushalt Münster oder auch beim Dialog Internet), aber auch solche mit nur einer Phase (Petitionssystem des Bundestags oder Medienpass NRW, dort zumindest im eigentlichen Beteiligungsprozess).

Im Beteiligungsprozess beim Bürgerhaushalt Münster folgt zum Beispiel nach einer Vorschlagsphase eine Prüfungs- und Rechenschaftsphase. Im Portal der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft können zunächst Vorschläge aus dem Online-Portal in die Diskussion der Projektgruppen einfließen; später werden die dort abgestimmten Papiere noch einmal online zur Diskussion gestellt.

Manchmal können Bürger relativ frei Vorschläge einstellen (wie bei der Enquete-Kommission), manchmal dürfen sie nur feststehende Fragen beantworten (Medienpass NRW) oder vorgegebene Vorschläge kommentieren. Dabei kommt zum Teil auch einfache Foren- oder Blog-Software zum Einsatz.

Auch Politiker-Blogs oder deren Twitter- und Facebook-Accounts kann man natürlich zu den eingesetzten Beteiligungswerkzeugen zählen, zumal gerade dort noch am ehesten persönliche Diskussion und Konversation stattfinden.

Rechenschaftsphase

Damit die Beteiligten auch nachverfolgen können, was nach der Beteiligungsphase mit den Vorschlägen passiert, bietet sich eine Rechenschaftsphase an. In dieser Phase kann innerhalb der Online-Beteiligungsplattform dokumentiert werden, was mit den einzelnen Vorschlägen passiert ist. Dies ist wichtig, damit die Bürger auch das Gefühl haben, dass die Vorschläge ernst genommen werden. Oft passiert dies aber leider nicht. Es bleibt den Bürgern nur übrig, Sitzungsprotokolle zu durchforsten oder Abgeordnete nach dem aktuellen Stand zu fragen.

Probleme und Herausforderungen

Es ist natürlich gut, dass es schon so viele Projekt und Versuche für mehr Bürgerbeteiligung gibt. Allerdings gibt es auch ein paar Probleme.

Motivation ist der Schlüssel

Das Hauptproblem ist normalerweise, zunächst die Motivation der Bürger zu wecken – und auch dauerhaft zu sichern. Die Bürger wollen ernst genommen werden. Es muss sichergestellt werden, dass keine falschen Erwartungen geweckt werden. So gab es in Aachen zum Beispiel ein paar Teilnehmer des Bürgerforums der Bertelsmann-Stiftung, die davon ausgingen, dass sie nun regelmäßig zum Thema angehört oder in Ausschüsse eingeladen werden. Da dies aber nicht der Fall ist und überhaupt unklar ist, was mit ihren Vorschlägen nun weiter passiert, war eine gewisse Frustration deutlich zu spüren. Ob sie noch einmal mitmachen würden, ist fraglich.

Dialog ohne Partner?

Hinzu kommt, dass die meisten Beteiligungsprozesse zunächst nur auf die Bürger zielen und die Politik selbst erst nachgeschaltet aktiv wird. Beim Dialog Internet sind es sogar drei Gruppen, die nacheinander beteiligt werden: Bürger, Experten und Politik. Es fehlt die direkte Kommunikation der Beteiligten untereinander – eins der Probleme, die auch als Gründe für Politikverdrossenheit angesehen werden. Wenn die Beteiligungsphase nur dem eigentlichen politischen Prozess vorgeschaltet wird, können "die da oben" in den Augen der Beteiligten weiterhin machen, was sie wollen. Es kommt selten zu einer Durchmischung von Bürgern und Politikern. Auch hier kann eine nachgeschaltete Rechenschaftsphase helfen. Aber wie die Erfahrungen mit Social Media generell zeigen, ist die direkte Diskussion aller Beteiligten auf einer Ebene immer noch das beste Mittel, um allen die Gewissheit zu vermitteln, dass ihre Anliegen wahrgenommen werden – und somit der Beteiligungsprozess seinen Zweck erfüllt.

Einfluss von Lobby-Gruppen?

Ein weiteres Problem kann sein, dass Lobby-Gruppen dank ihrer Ressourcen stärkeren Druck ausüben können als einfache Bürger oder mittelständische Unternehmen . Dies zeigt sich zum Beispiel auch schon in der Arbeit der Projektgruppen der Internet-Enquete. Auch hier sitzen teilweise mehr Mitarbeiter der Lobby-Verbände an den Themen als Abgeordnete oder die restlichen Sachverständigen. Auch wurde im Rahmen der Enquete schon das Problem diskutiert, dass einfache Bürger online einfach überstimmt werden könnten, wenn ein Lobby-Verband all seine Mitglieder aktivieren würde, um für den eigenen Vorschlag zu votieren.

Cheating

Abstimmungen bei Online-Beteiligungsverfahren sind generell mit Vorsicht zu genießen, denn Manipulationen sind meist nicht einfach zu verhindern – insbesondere, wenn die Abstimmung nicht innerhalb eines geschlossenen Personenkreises stattfindet. Letzteres gibt es beispielsweise bei innerparteilicher Anwendung von Beteiligungstools wie bei der Piratenpartei. Bei einem Bürgerhaushalt zum Beispiel gibt es dies aber meist nicht. Es ist natürlich auch schwierig, allen Bürgern einen individuellen, sicheren Login zu senden.

Wie schon anfangs erwähnt, wird auch aus diesen Gründen zunächst auf eben die Konsultation gesetzt und Bürgerbeteiligung daher auch eher als Diskussionsplattform denn als Abstimmungswerkzeug gesehen werden. Entscheiden müssen immer noch die jeweiligen politischen Gremien.

Vision

Was also kann man tun, damit einerseits die Motivation der Bürger geweckt wird und andererseits am Ende auch sinnvolle Vorschläge herauskommen? Hier ein paar Vorschläge.

1. Planung mit dem Bürger zusammen

Die Beteiligung fängt schon ganz am Anfang an. Auch die Planung einer Bürgerbeteiligung sollte schon mit den Bürgern zusammen durchgeführt werden. Was erwarten die Bürger? Was erwartet die Politik? Was die Verwaltung? Was ist überhaupt möglich, was wünschenswert? All diese Fragen sollten alle Beteiligten schon frühzeitig miteinander diskutieren. Anschließend sollte allen klar sein, was der Prozess leisten kann, was nicht und was am Ende herauskommen könnte.

Diese Diskussion sollte zudem nicht mit Start des eigentlichen Beteiligungsprojekts beendet sein, sondern dieses begleiten und reflektieren. Der Prozess kann dadurch nach und nach weiter verbessert werden.

2. Information kommt vor Beteiligung

Als zweites sollten die Bürger über das Thema so umfassend wie möglich informiert werden, denn nur wer informiert ist, kann auch sinnvolle Vorschläge abgeben. Bei einem Haushalt sollte zum Beispiel darüber informiert werden, welchen Zwängen eine Stadt unterliegt, welche Posten man überhaupt frei vergeben kann und welche festgeschrieben sind. Auch eine Visualisierung, zum Beispiel mit offenerhaushalt.de, wie in München geschehen, ist hilfreich, um auch Laien einen Überblick zu vermitteln, wie groß überhaupt welche Posten im Haushalt sind.

Bei anderen Themen sollten verfügbare Gutachten und Studien bereitgestellt werden, wenn möglich auch ein Expertendialog. Hier sollte in der Planungsphase definiert werden, was genau geleistet werden kann.

3. Direkter Dialog statt abgekoppelter Politik

Drittens sollten Bürger, Politik und Verwaltung auf einer Ebene und synchron miteinander diskutieren. So sollten Vorschläge von allen Beteiligten eingestellt und diskutiert werden und wenn möglich, frühzeitig auf Machbarkeit geprüft werden. Die Bürger sollten zudem so schnell wie möglich erfahren, wenn ihre Vorschläge Probleme aufwerfen, um sie ggf. lösen zu können oder aber den Vorschlag im Zweifel auch zurückzuziehen.

Gerade hier machen dann auch Vor-Ort-Veranstaltungen Sinn. Diese sollten aber protokolliert und nach Möglichkeit live ins Netz übertragen werden, damit auch alle Beteiligten die Diskussion verfolgen können. Auf diesen Veranstaltungen gemachte Vorschläge sollten dann direkt im Online-Portal dokumentiert und wie ein Online-Vorschlag verwaltet werden.

4. Rechenschaft ablegen

Viertens sollte nach Möglichkeit immer eine Rechenschaftsphase im Beteiligungsportal selbst vorgesehen werden. Zu jedem Vorschlag sollte dokumentiert werden, was mit diesem geschehen ist. Auch sollten alle entstandenen Inhalte erhalten und dokumentiert werden und nicht etwa nach Beendigung des Projekts gelöscht werden. Viele Themen sind ja langlebiger als das einzelne Projekt oder werden schnell erneut aktuell.

Fazit

Während es schon recht viele Projekte im Bereich Bürgerbeteiligung gibt, ist es doch meist so, dass Bürger und Politik immer noch separat voneinander diskutieren. Insofern sind sicherlich noch viele Experimente und Mut erforderlich, diese beiden Ebenen noch weiter zusammenzubringen, so dass im Endeffekt eine echte Konversation herauskommt.

Quelle

Dieser Artikel steht unter der CC-by-Lizenz, Autor: Christian Scholz für pb21.de.

Quelle: pb21.de (Kooperationsprojekt der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und des DGB Bildungswerks)