Günter Thiele, Anmerkungen zu "Das Berliner Bildungsprogramm für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen bis zu ihrem Schuleintritt" (31.07.03)

Die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport hat einen differenzierten Entwurf eines Bildungsprogramms für Kinder in Tageseinrichtungen veröffentlicht und um Stellungnahmen der interessierten Öffentlichkeit gebeten.
Parallel dazu erarbeitet die nach § 78 SGB VIII eingerichtete übergreifende Arbeitsgruppe "Medienbildung/Medienerziehung" auftragsgemäß ein "Rahmenkonzept für die medienpädagogische Arbeit in der Berliner Jugendhilfe". Der erste Teil "Medienkompetenz als zentrale Bildungsaufgabe der Jugendhilfe" liegt vor. Hierin sind einige grundsätzliche Ausführungen auch zur Aufgabe der Medienkompetenzförderung in Tageseinrichtungen für Kinder enthalten. Differenzierungen und Qualitätsstandards für diesen Bereich werden zur Zeit erarbeitet.

"Bildungsprogramm" und "Rahmenkonzept" haben eine gemeinsame "Schnittmenge". Diese gilt es zu identifizieren und abzustimmen, um die Schlüssigkeit der Konzepte zu verdeutlichen.

Aus Sicht der Medienpädagogik weist der vorliegende Entwurf des Bildungsprogramms nachstehende Defizite aus:

Das Programm soll sich zwar explizit "an der Lebenswelt des Kindes" orientieren, blendet jedoch weitgehend aus, dass Lebenswelten heute Medienwelten sind. "Kindheit ist heute Medienkindheit."(Baacke u.a. 1993)

Das heute notwendige Konzept einer systematischen frühkindlichen Medienbildung fehlt dementsprechend in dem Entwurf völlig. Wenn jedoch dem Grundsatz des Bildungsprogramms "Orientierung an der Lebenssituation, den Erfahrungen und den Bedürfnissen von Kindern" ernsthaft gefolgt werden soll, dürfen deren medienbezogene Kompetenzen, Medienvorlieben und -erlebnisse gerade in einem neuen Bildungsprogramm nicht übergangen werden. In diesem Sinne fordert auch die Jugendministerkonferenz für das frühe Kindesalter u.a.

"Angebote zur Aneignung von Medienkompetenz und der Erfassung und Einschätzung von Risiken und Gefährdungen" (Beschluss vom 18.04.2002, S.5)

Einige wenige Fakten hierzu:

Analoge und digitale Medien aller Art gehören heute zum selbstverständlichen Bestandteil der Lebenswelt - auch für Kita - Kinder. Vorschulkinder sind eifrige Mediennutzer.

Kinder wachsen heute i.a. in Haushalten mit einem breiten Angebot an Fernsehsendern auf. Drei- bis fünfjährige sehen bereits durchschnittlich 70 min pro Tag fern.

Kinder übernehmen Medieninhalte, besonders auch Werbung und Merchandising, sowohl in ihr Spielrepertoire als auch in ihr Repertoire von Vorstellungen und Wünschen.

37% der Vierjährigen, 21% der fünfjährigen und 12% der sechsjährigen Kinder kennen den Unterschied zwischen Werbung und Programm nicht. Sie verfügen deshalb auch nicht über notwendige Kategorisierungs- und Kontrollstrategien. (Charlton u.a. 1995)

Regelmäßige Magazinsendungen wie Tigerentenclub, Siebenstein oder Löwenzahn bieten z.B. für viele Vierjährige Vorbilder und Identifikationsmuster an. Eine Ausweitung der Sehdauer der Kinder in die Abendstunden zeichnet sich deutlich ab.

Die Ausstattung der Haushalte mit PC (bei den allein Erziehenden mit Kind(ern) 73% und bei den Paaren mit Kind(ern) 90%) und Internetanschluß ( rund 50%) liegt mittlerweile auf sehr hohem Niveau und steigt noch weiter an.

Der eigene Medienbesitz von Kindern nimmt zu. Mediengeräte sind in Kinderzimmern zunehmend präsent - z.B. verfügen 2/3 der Sechsjährigen über einen eigenen Kassettenrecorder oder CD-Spieler.

Medien sind auch im öffentlichen Raum vielfältig und weiter zunehmend präsent.

Der Programmentwurf berücksichtigt die damit einhergehenden Auswirkungen praktisch nicht. Zwar wird auf S.13 ausgesagt, dass immer früherer Zugang zu Medien "andere Erfahrungshorizonte" eröffne und auf S.14 konstatiert, dass Bilder von Männern und Frauen, die über Medien transportiert werden, hochwirksam seien, aber schon bei der Formulierung übergreifender Ziele wird eine Auseinandersetzung mit dem Bereich "Medien" nicht vorgesehen.

Zwar wird in Bezug auf "pädagogisch-methodische Aufgaben" auf S.19 betont, dass Strukturierungspunkte für die Planung der pädagogischen Arbeit "vorrangig die Erlebnisse und Erfahrungen der Kinder" sein sollen, ihre vielfältigen und eindrucksvollen Medienerfahrungen und -erlebnisse werden jedoch weder hier noch später in den "Bildungsbereichen" und den ansonsten sehr differenzierten Zusammenstellungen von Analysefragen, Zielen und Bildungsaufgaben berücksichtigt.

Die Alltagspraxis zeigt jedoch: Kinder genießen die unterschiedlichsten Medienangebote und nutzen sie z.B. auch zu Identitätsbildung, Selbstdarstellung und Kommunikation. Sie spielen hierzu ihre Medienerlebnisse mit anderen Kindern nach und bringen gezielt Spielfiguren ihrer "Medienhelden" mit in die Einrichtung. Erzieherinnen sind zum Teil verunsichert, ob und wie sie mit diesen geäußerten Medienerlebnissen der Kinder produktiv umgehen können. Der Bildungsprogrammentwurf gibt hierzu keine Hilfestellung.

Auch das eigene produktive Gestalten der Kinder mit Medien - in der Medienpädagogik als "Königsweg zur Medienkompetenz" bekannt - wird im Entwurf nicht explizit empfohlen und kann höchstens in einige dürre Kurzformulierungen hineininterpretiert werden.

Im Bereich "Sprachen, Kommunikation und Schriftkultur" betont der Entwurf: "Aufwachsen in einer Medien- und Informationsgesellschaft heißt unter anderem, Bilder und Texte, gesprochene und geschriebene Sprache in hoher Dichte, schneller Abfolge und variierenden Erscheinungsformen zu erleben."(S.42) Dieser wichtige Zusammenhang wird in den Analysefragen nur marginal, in den Aktivitätsanregungen und Vorschlägen zur Projektarbeit überhaupt nicht weiter thematisiert.

Ein schlichter Vorschlag wie im "Schulfähigkeitsprofil", einer Empfehlung für die Bildungsarbeit in Kitas in NRW, als Übungsform für die angezielte Entwicklung eines ersten Textverständnisses über ein gemeinsam betrachtetes Video zu sprechen - und damit das in der Fachdiskussion schon lange angestrebte erweiterte Textverständnis aufzugreifen, das eben auch audiovisuelle Texte einbezieht - taucht im Entwurf nicht auf.

Im Literaturverzeichnis fehlen Titel zur Medienbildung im vorschulischen Bereich gänzlich.

In der Fachöffentlichkeit herrscht heute weitgehend Konsens, dass Medienerziehung im Kindergarten beginnen muss. Es gibt es jedoch auch noch Versuche, Medieneinflüsse von den Kindern fernzuhalten und den Kindergarten als medienfreien Raum zu bewahren. Dabei werden Medien z.T. einseitig als Gefahrenquelle für die kindliche Entwicklung betrachtet. Im Bildungsprogramm fehlt eine klare Stellungnahme hierzu. Auf S.24 wird die positive Wirkung einer anregungsreichen Raumgestaltung betont, gleichzeitig soll diese jedoch "der verbreiteten Reizüberflutung möglichst entgegen wirken". Diese heute in der Pädagogik seltene Formulierung wurde meist in der Spezifizierung "Reizüberflutung durch Medien" in bewahrpädagogischer Absicht gebraucht. Könnte es sein, dass diese übergreifende Zielsetzung implizit auch den Entwurf beeinflusst hat?

Die folgenden Literaturhinweise könnten bei der notwendigen Überarbeitung des Entwurfs berücksichtigt werden. Die Publikationen enthalten zahlreiche sinnvolle und konkrete Vorschläge.

Anfang, G., Demmler, K., Lutz, K. (Hrsg.), Mit Kamera, Maus und Mikro - Medienarbeit mit Kindern, München 2003 .
Einige theoretische Grundlagen, altersgemäße Ansatzpunkte praktischer Medienarbeit, Praxisbeispiele, Hilfen zur Realisierung eigener Projekte

Aufenanger, S.; Neuss, N., Alles Werbung, oder was? - Medienpädagogische Ansätze zur Vermittlung von Werbekompetenz im Kindergarten, Kiel (Unabhängige Landesanstalt für das Rundfunkwesen) 1999 .
Forschungsüberblick; Entwicklung, Erprobung und Evaluation von medienpädagogischen Bausteinen; ausführliche Beschreibung der Bausteine

Bayerische Landeszentrale für neue Medien / Aktion Jugendschutz Bayern (Hrsg.) Kinder sehen fern : 5 Bausteine zur Fernsehrezeption bei Kindern - Medienpaket München 2000 .
Das Medienpaket aus Broschüre, Videocassette, und CD - ROM erläutert und veranschaulicht Erkenntnisse des kindlichen Umgangs mit dem Fernsehen an konkreten Beispielen aus dem Programm. Gutes Material zum Verständnis des kindlichen Fernseherlebens.

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Handbuch Medien: Medienerziehung früh beginnen, Bonn 2001
Grundlegende Einführung in die Thematik und Darstellung erprobter Angebote für die Praxis

Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Handbuch Medienerziehung im Kindergarten, Bd. 2: Praktische Handreichungen, Opladen 1995
Zahlreiche praktische Vorschläge für eine situationsorientierte Medienarbeit im Kindergarten.

Eder, S., Neuß, N. Zipf, J., Medienprojekte in Kindergarten und Hort, Berlin 1999
Das 270seitige Projekthandbuch bringt zahlreiche erprobte medienpädagogische Projektbeispiele für Kindergarten und Hort, zu denen auch die konkreten Erfahrungen von Erzieherinnen und Kindern während der Durchführung der Projekte verdeutlicht werden.

Eder, S., Roboom, S., Video, Compi & Co. - Projektbeispiele aus der Praxis für die Praxis über den Einsatz von Medien in der Kita, Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Nordrhein-Westfalen, Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (Hrsg), 2003

Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (Hrsg), Themenheft "Medienpädagogik im Vorschulalter" der Zeitschrift .nexum - das Netzwerk, Bielefeld 2003, auch unter http://www.mediageneration.net/nexum/nexum7/

Aktuelle Artikel mit weiteren Verweisen:

IFAK, Medientipps, Stuttgart 2003
http://www.ifak-kindermedien.de/medientipps.htm
Das Institut für angewandte Kindermedienforschung (IfaK) der Fachhochschule Stuttgart - Hochschule der Medien bietet hier fundierte Empfehlungen und Rezensionen zu Tonträgern, CD-ROMS, Videos, Jugendzeitschriften und Online-Magazinen für Kinder

Maier, M., Mikat, C., Zeitter, E., Medienerziehung in Kindergarten und Grundschule - 490 Anregungen für die praktische Arbeit, München 1997
Zu 490 Unterrichtseinheiten und Projekten für die Medienerziehung in Kindergarten und Grundschule werden Anlage, Ziele und Inhalte skizziert.

Näger, S., Kreative Medienerziehung im Kindergarten. Ideen - Vorschläge - Beiträge, Freiburg 1992
Mit Projekten und Beispielen aus der Praxis werden Anregungen gegeben, wie technische Medien im Kindergarten im Sinne einer handlungsorientierten Medienpädagogik nutzbar sind.

Neuß, N., Michaelis, C., Neue Medien im Kindergarten. Spielen und Lernen mit dem Computer, Offenbach 2002
Die Autoren beschreiben anhand konkreter Projekte, wie Computer sinnvoll und mit viel Spaß für Kinder und Erzieherinnen im Kindergarten zum Einsatz kommen können und geben praxisbewährte Hinweise, wie die Erzieherinnen das Computerspiel mit Kindern anleiten können.

Neuß, N., Pohl, M., Zipf, J., Erlebnisland Fernsehen. Medienerlebnisse im Kindergarten aufgreifen / gestalten / reflektieren, München 1997
Auf 134 Seiten werden praxiserprobte methodische Bausteine beschrieben, die kindliche Medienerlebnisse produktiv aufgreifen.